Einblicke

Einleitung: Gespaltene Gesellschaft im Spannungsfeld der Extreme

Blättert man dieser Tage durch die Nachrichten oder soziale Medien, entsteht leicht der Eindruck einer Gesellschaft am Rande der Spaltung. Lautstark stehen sich vermeintlich unversöhnliche Lager gegenüber – hier die Vertreter „rechter“ Positionen, dort jene des „linken“ Spektrums. Dazwischen scheint kaum noch Raum für nüchterne Debatte, für Zwischentöne oder gar für Kompromisse zu bleiben. Eine zunehmende Polarisierung prägt das öffentliche Klima. Was gestern noch ein Meinungsaustausch war, gerät heute zur moralischen Schlacht: Jede Äußerung wird zum Bekenntnis, jedes Schweigen zum Verdachtsmoment.

Diese Zuspitzung führt zu einer gefährlichen Dynamik. Extreme Weltanschauungen – am rechten wie am linken Rand – gewinnen an Einfluss und übertönen den gemäßigten Diskurs. Viele Menschen ziehen sich frustriert aus öffentlichen Debatten zurück, weil sie das Gefühl haben, man könne kaum noch offen sprechen, ohne in eines der verfeindeten Lager gesteckt zu werden. Tatsächlich zeigt eine aktuelle Umfrage, dass sich nur noch 45 % der Deutschen trauen, ihre politische Meinung frei zu äußern – vor einigen Jahrzehnten waren es stabil über zwei Drittel. Fast zwei Drittel glauben heute, es gebe ungeschriebene Gesetze, welche Themen und Worte „tabu“ sind. Bemerkenswerterweise geht dieser Druck nicht von einer schweigenden Mehrheit aus, sondern von lauten Minderheiten, die den Diskurs dominieren. Dieses Gefühl gesellschaftlicher Gängelung hat Folgen: Es begünstigt die Flucht in die eigenen Blasen, wo man nur noch Gleichgesinnte hört – und es treibt Menschen in die Arme extremer Ideologien, die vermeintlich klare Antworten in einer komplexen Welt bieten.

Die Wildnisschule Lupus beobachtet diese Entwicklung mit Sorge. Als Bildungsstätte, die Menschen in und mit der Natur zusammenbringt, sehen wir tagtäglich, wie wichtig Offenheit, Toleranz und ideologische Unabhängigkeit für ein konstruktives Miteinander sind. In der Wildnis zählen nicht politische Schlagworte, sondern Menschlichkeit, Gemeinschaftssinn und die Bereitschaft, voneinander zu lernen. Bevor wir darauf zurückkommen, wie wir uns als Wildnisschule positionieren, wollen wir einen Blick auf die Ursachen der Polarisierung werfen – und darauf, was beide Extreme gemeinsam haben. Denn nur wenn wir die Mechanismen verstehen, können wir Auswege finden.

Zwei Extreme – und ein gemeinsames Problem

Sowohl am rechten wie am linken Rand des politischen Spektrums haben sich in den letzten Jahren Strömungen verstärkt, die liberal-demokratische Grundwerte untergraben. Rechtsextremismus tritt oft offen als Feind der freiheitlichen Ordnung zutage: rassistische Ideologien, autoritäre Sehnsüchte und die Bereitschaft zu Gewalt bis hin zum Terrorismus. In Deutschland kennen wir die verheerenden Folgen rechten Extremismus aus der Geschichte nur zu gut. Die Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus begann einst mit Hetze und dem Zersetzen demokratischer Normen. Heute warnen uns unter anderem Anschläge wie in Halle oder Hanau und die Mordserie des NSU schmerzhaft, dass rechter Hass lebensgefährliche Realität ist. Es gibt keinerlei Zweifel: Menschenfeindlichkeit, Antisemitismus und völkischer Nationalismus verdienen unsere entschiedene Gegenwehr.

Doch während die Gefahr von rechts breit erkannt und – zu Recht – bekämpft wird, gerät eine andere Entwicklung aus dem Blickfeld: die schleichende Radikalisierung von links. Wer dies anspricht, läuft Gefahr, missverstanden zu werden. Es geht keinesfalls darum, linke Anliegen pauschal zu verurteilen oder rechte Exzesse zu relativieren. Vielmehr müssen wir anerkennen, dass auch aus ursprünglich progressiven Ideen extreme Verzerrungen entstehen können. Diese verzerrten Formen bedrohen – wenn auch anders als ihre rechten Gegenstücke – den offenen Diskurs und den gesellschaftlichen Frieden. Sie tun dies subtiler, oft im Namen eines „höheren Moralanspruchs“, und werden daher seltener kritisch hinterfragt. Gerade deshalb lohnt ein genauerer Blick.

Historisch betrachtet sind Extreme beider Seiten in ihren Methoden ähnlicher, als Anhänger wahrhaben wollen. Ideologische Fanatiker – ob nun im linken oder rechten Gewand – neigen dazu, Heilslehren absolut zu setzen und Andersdenkende als Feinde zu betrachten. Hannah Arendt bemerkte in ihrer Analyse totalitärer Bewegungen, dass in solchen Systemen letztlich Menschen geformt werden sollen, „für die die Unterscheidung zwischen Fakt und Fiktion und zwischen wahr und falsch nicht mehr existiert“. Diese Warnung bezog sich auf die Propagandamechanismen von Nazis wie Stalinisten gleichermaßen. Sie erinnert uns daran, dass jede extreme Ideologie gefährlich wird, wenn sie einen Absolutheitsanspruch erhebt und die Realität nur noch durch ihre dogmatische Linse betrachtet. Ob rechtes oder linkes Extrem – am Ende droht eine geschlossene Weltanschauung, in der abweichende Fakten geleugnet und kritische Stimmen erstickt werden.

Heute erkennen wir autoritäre Versuchungen am rechten Rand recht deutlich. Aber auch manche Auswüchse am linken Rand zeigen totalitäre Züge im Kleinen: Sie dulden keinen Widerspruch, kennen nur noch „richtig“ oder „falsch“ gemäß der eigenen Doktrin und setzen auf sozialen Druck, um Konformität zu erzwingen. Dieses Phänomen lässt sich aktuell bei Begriffen beobachten, die in aller Munde sind – Cancel Culture, übersteigerte Sprachsensibilität und strikte Identitätspolitik. Was steckt dahinter?

Linke Radikalisierung: Wenn das Gute ins Dogmatische kippt

Die meisten dieser Erscheinungen haben ihren Ursprung in legitimen Anliegen. Aus dem berechtigten Einsatz für Gerechtigkeit, Respekt und Vielfalt können allerdings im Übermaß Haltungen entstehen, die selbst intolerant und ausgrenzend sind. Linke Radikalisierung zeigt sich weniger durch physische Gewalt (obwohl es auch linksextreme Gewalttaten gibt), sondern vor allem auf dem Feld der Sprache und Kultur. Drei Schlagworte stehen exemplarisch dafür:

Cancel Culture – Ausschluss statt Debatte

Unter Cancel Culture versteht man die Tendenz, Personen des öffentlichen Lebens, Wissenschaftlerinnen, Künstlerinnen oder auch Privatleute, die mit als anstößig empfundenen Meinungen oder Handlungen auffallen, öffentlich zu ächten und ihrer Plattform zu berauben. Im digitalen Zeitalter äußert sich das häufig in Shitstorms, Boykottaufrufen oder Forderungen nach Entlassung und Ausladung. Was als moralische Stellungnahme begann – nämlich klare Kante zeigen gegen Rassismus, Sexismus oder Diskriminierung – schlägt im Extremfall um in einen Gesinnungskonformismus, der abweichende Ansichten gnadenlos sanktioniert.

Ein bekanntes Beispiel aus Deutschland ist der Fall Lisa Eckhart. Die österreichische Kabarettistin wurde 2020 von einem Hamburger Literaturfestival wieder ausgeladen, weil man befürchtete, ihre satirischen Nummern könnten als rassistisch oder antisemitisch verstanden werden. Zuvor hatte es Protestankündigungen und massive Kritik an ihren Auftritten gegeben. Die Veranstalter begründeten die Absage mit Sicherheitsbedenken – der Druck einer lautstarken Minderheit führte also faktisch zur Vor-Zensur eines künstlerischen Beitrags. Ironischerweise erhielt Eckhart für diese „Cancel“-Aktion Applaus ausgerechnet von der anderen Seite – rechten Kreisen –, was die verhärteten Fronten weiter verstärkte. Der eigentliche Punkt jedoch ist: Hier wurde nicht der offene Diskurs gesucht (etwa eine kontroverse Diskussion über die Grenzen von Satire), sondern man entzog präventiv einer unliebsamen Stimme die Bühne.

Für eine demokratische Gesellschaft ist so etwas problematisch. John Stuart Mill, einer der großen Vordenker der liberalen Meinungsfreiheit, argumentierte bereits 1859 in Über die Freiheit, dass selbst irrige oder unbequeme Meinungen gehört werden sollten. Nur durch den freien Wettbewerb der Ideen könne Wahrheit sich herauskristallisieren – und auch die richtigen Ansichten blieben ohne Widerspruch lebendig und überzeugend. Wird eine Position hingegen unterdrückt, beraubt man sich entweder der Chance, einen eigenen Fehler zu korrigieren oder, falls man selbst recht hat, der Möglichkeit, die Wahrheit im Streit der Argumente klarer zu begreifen. Die Cancel Culture jedoch entzieht gewissen Meinungen von vornherein die Legitimität, überhaupt geäußert zu werden. Anstatt den besseren Argumenten den Vorrang zu geben, wird der Diskurs abgebrochen.

Der Philosoph Jürgen Habermas hat dafür das Ideal des herrschaftsfreien Diskurses entworfen: In einer idealen Diskussion zählen nur die Kraft des besseren Arguments und nicht sozialer Druck, Machtpositionen oder Angst. In der Realität entfernen wir uns durch Cancel Culture von diesem Ideal. Menschen haben Angst, etwas „Falsches“ zu sagen, und ziehen sich zurück. Die freie Debatte, dieses zarte Pflänzchen der Demokratie, droht zertreten zu werden. Plötzlich steht nicht mehr die Sache im Vordergrund, sondern die Frage, wer noch etwas sagen „darf“ und wer nicht. Und diese Entscheidung obliegt faktisch jenen, die am lautesten Empörung artikulieren.

Sprachsensibilität – vom respektvollen Umgang zum Zwangskorsett

Ein zweiter Aspekt ist die übersteigerte Sprachsensibilität. Ohne Zweifel formt Sprache unsere Wirklichkeit; diskriminierende Begriffe können Ausgrenzung zementieren. Es war und ist ein zivilisatorischer Fortschritt, dass wir z.B. rassistische Beleidigungen oder herabwürdigende Ausdrücke für Minderheiten ächten. Doch inzwischen hat sich in Teilen der Gesellschaft eine Sprachpolizei-Mentalität entwickelt, in der jedes Wort auf die Goldwaage gelegt wird. Gut gemeinte Leitlinien wie „inklusive Sprache“ geraten mancherorts zum starren Regelwerk, das kreativen Ausdruck hemmt und vor allem im zwischenmenschlichen Alltag für Verkrampfung sorgt.

Ein Beispiel ist die hitzige Gender-Sprachdebatte. Vielen geht es zurecht um Sichtbarkeit aller Geschlechter in der Sprache – ein berechtigtes Anliegen. Doch wenn aus jedem Redebeitrag ein akustisch holpriges Konstruktion („Bürger*innen“, „Studierende“ statt Studenten und Studentinnen etc.) werden muss, wenn in jedem zweiten Satz eine Wortneuschöpfung oder Lücke bemüht wird, um ja niemanden zu „unsichtbar“ zu machen, dann fühlt sich ein Teil der Bevölkerung bevormundet. Manche Städte und Universitäten haben Leitfäden erlassen, wie zu sprechen und zu schreiben sei. Wer davon abweicht – selbst aus Unwissen oder stilistischen Gründen – erntet nicht selten scharfe Korrektur und moralische Belehrung.

Die Absicht, respektvoll einzuschließen, schlägt so ins Gegenteil um: Sprache wird zum Minenfeld. Statt natürlicher Verständigung herrscht Unsicherheit: Darf ich dieses Wort noch verwenden? Wie viele Binnen-I’s oder Sternchen muss ich setzen, um nicht anzuecken? Im Extrem entsteht ein elitäres Zeichenspiel, das Außenstehende kaum durchschauen. Verständigung – das eigentliche Ziel von Sprache – wird schwerer, nicht leichter. Und schlimmer: Der Fokus verschiebt sich vom Inhalt zur Form. Ein inhaltlich berechtigter Beitrag kann abgetan werden, nur weil der Sprecher einen veralteten Begriff benutzt hat. Hier zeigt sich eine linke Variante von Intoleranz: Man beurteilt einen Menschen moralisch anhand seiner Sprachgewohnheiten, nicht anhand seiner Taten oder Argumente.

Ein Blick in die Psychologie hilft zu verstehen, warum übertriebene Sprachzensur kontraproduktiv sein kann. Der Stoiker Epiktet lehrte schon vor 2000 Jahren: „Es sind nicht die Dinge selbst, die uns beunruhigen, sondern die Vorstellungen und Meinungen von den Dingen.“ Mit anderen Worten: Ein Wort an sich hat zunächst die Bedeutung, die wir ihm geben. Natürlich können Worte verletzen – doch wir können auch unsere Reaktion darauf kontrollieren. Persönliche Souveränität bedeutet, nicht jeder Provokation die Macht zu geben, uns aus der Fassung zu bringen. Wenn wir jedoch eine Kultur fördern, in der jedes versehentliche falsche Wort als Aggression gewertet wird, entmündigen wir uns selbst. Wir suggerieren, dass schon ein Begriff uns handlungsunfähig macht. Epiktets stoische Haltung mahnt hier zur Gelassenheit: Nicht jedes ungeschickte Wort des Gegenübers ist böse gemeint; oft lohnt es sich, erst nachzufragen, bevor man in Empörung ausbricht. Eine etwas großzügigere, gelassenere Grundhaltung im Umgang miteinander würde viel Druck vom Kessel nehmen – ohne dass wir deswegen absichtliche Beleidigungen dulden müssten. Aber nicht jedes „falsche“ Wort ist ein Verbrechen. Eine resiliente Gesellschaft braucht Bürger, die auch mal etwas aushalten oder mit Widerspruch konstruktiv umgehen können.

Identitätspolitik – berechtigte Anerkennung und gefährliche Fragmentierung

Der dritte Begriff, der im Zusammenhang linker Radikalisierung oft fällt, ist die Identitätspolitik. Gemeint ist damit ein Politik- und Gesellschaftsverständnis, bei dem die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe (sei es Ethnie, Geschlecht, sexuelle Orientierung, religiöse Gemeinschaft etc.) den zentralen Referenzpunkt bildet. Lange Zeit wurden viele Gruppen in der Tat benachteiligt oder ignoriert – Frauen, die LGBT-Community, People of Color und andere haben legitime Anliegen auf Gleichberechtigung und Anerkennung ihrer Identitäten vorgebracht. Identitätspolitik in Maßen bedeutet, diese unterschiedlichen Perspektiven sichtbar zu machen und Gerechtigkeit für Minderheiten einzufordern.

Problematisch wird es, wenn die Identität zum einzigen Maßstab wird. Im extremen Fall zerfällt das gesellschaftliche Wir-Gefühl in lauter Partikularinteressen. Dann geht es nicht mehr um universelle Werte oder gemeinsame Lösungen, sondern jede Gruppe ringt um maximale Berücksichtigung ihrer eigenen Belange – häufig in Konkurrenz zu anderen Gruppen. Ein solches Klima fördert Misstrauen und Neid: Wer hat mehr Aufmerksamkeit, wem wird mehr „Opferstatus“ zugestanden? Anstatt solidarisch zusammenzuarbeiten, um gemeinsam Ungerechtigkeit abzubauen, besteht die Gefahr eines Wettstreits der Marginalisierten.

Zudem führt überzogene Identitätspolitik oft zu Essenzialismus: Menschen werden stark auf Kategorien reduziert. Da wird etwa behauptet, nur Angehörige einer bestimmten Gruppe könnten über die Erfahrung dieser Gruppe sprechen – alle anderen hätten „nichts zu melden“. Ein Beispiel: Einige Aktivisten fordern, dass nur noch Autoren mit bestimmter ethnischer Identität über Figuren dieser Ethnie schreiben dürften (Stichwort kulturelle Aneignung in Literatur und Kunst). Oder an Universitäten werden Redner ausgeladen, weil ihre Identität (z.B. weiß, männlich, hetero) sie angeblich disqualifiziere, zu Themen wie Rassismus oder Gender zu sprechen – unabhängig davon, wie fundiert oder wertvoll ihr Beitrag sachlich wäre. Das ist das genaue Gegenteil eines inklusiven Ansatzes: Nicht der Inhalt zählt, sondern wer spricht. Eine solche Haltung verletzt ein Kernprinzip der Aufklärung, nämlich den einzelnen Menschen jenseits seiner Herkunft oder Zugehörigkeit zu beurteilen. Martin Luther Kings Traum, eines Tages möge man nach dem Charakter statt nach der Hautfarbe urteilen, droht ad absurdum geführt zu werden, wenn permanent die Hautfarbe (oder ein anderes Identitätsmerkmal) ins Zentrum gerückt wird.

Auch hier ist die Parallele zu dogmatischen rechten Weltbildern frappierend: Beide Extreme definieren starre Gruppen – dort „das Volk“ versus „Fremde“ oder „Eliten“, hier „unterdrückte Minderheiten“ versus „Privilegierte“ – und behandeln Individuen nur noch als Vertreter dieser Kollektive. Differenzierung und der Blick aufs Individuum gehen verloren. Im Ergebnis stehen sich isolierte Gruppen misstrauisch gegenüber, anstatt den gemeinsamen Dialog zu suchen.

Gemeinsamkeiten der Extreme: Intoleranz und Denkverbote

Ob rechter Fundamentalismus oder linker Rigorismus – beide beruhen letztlich auf Intoleranz gegenüber abweichenden Sichtweisen. Sie halten ihre Weltanschauung für moralisch überlegen und rechtfertigen damit auch fragwürdige Mittel. Feindbilder sind für beide Seiten zentral: Rechts wird gegen „links-grüne Gutmenschen“ oder migrantische „Feinde des Volkes“ gehetzt, links gegen „reaktionäre Rechte“ oder vermeintliche Mitschuldige an Unterdrückung (das kann die weiße Mehrheitsgesellschaft sein, Männer, Heterosexuelle, „Kapitalisten“, je nach Kontext). Natürlich bestehen Unterschiede: Rechte Extreme zielen oft auf Ausgrenzung und Hierarchie (sie wollen z.B. Minderheiten unterdrücken oder ausschließen), während linke Extreme auf Gleichmachung um jeden Preis drängen (sie wollen jede Abweichung von ihrer Gleichheitsdoktrin eliminieren). Doch der Kern extremer Ideologien gleicht sich: Sie kennen kein Grau, nur Schwarz-Weiß.

Diese bipolare Weltsicht hat historisch fatale Folgen gehabt. In der Weimarer Republik etwa zersetzten in den 1920er/30er Jahren Kommunisten und Nationalsozialisten gemeinsam die demokratische Mitte. Beide wollten das parlamentarische System stürzen; beide setzten auf Straßenkampf, Einschüchterung und Propaganda. Die Demokratie ging daran zugrunde, weil gemäßigte Kräfte keine gemeinsame Basis mehr fanden zwischen den an beiden Rändern schwelenden Extremfeuern. Auch wenn die historischen Kontexte unterschiedlich sind, warnt uns Weimar exemplarisch: Wenn politische Extreme erstarken und das gemäßigte Zentrum delegitimiert wird, gerät die freiheitliche Ordnung ins Wanken.

Ein beunruhigender Aspekt heutiger Polarisierung ist das gegenseitige Hochschaukeln. Rechte Akteure verweisen zur Rechtfertigung ihrer Scharfmacherei auf angebliche linke Übermacht in Medien oder Hochschulen („Kulturmarxismus“ etc.). Linke Aktivisten wiederum sehen überall faschistische Tendenzen und halten drastische Gegenmaßnahmen für legitimiert („Antifa“-Aktionen, Sprechverbote für vermeintlich rechte Positionen). So treibt jede Seite die andere weiter ins Extreme – ein Teufelskreis. Die vernünftige Mitte, die beide Seiten in die Schranken weist, wird dabei an den Rand gedrängt oder als „schwach“ diffamiert.

Was können wir dem entgegensetzen? Zunächst, eine klare Haltung: Jeglicher Extremismus – ob rechts oder links – verdient unseren Widerspruch. Keine Ideologie, die auf Hass, Ausgrenzung oder totalitärem Denken beruht, darf salonfähig werden. Dies ist eine Grundlinie, auf die wir uns als Gesellschaft verständigen müssen. Aber es reicht nicht zu sagen „Extreme sind schlecht“. Wir müssen aktiv am Klima arbeiten, das Extremismus begünstigt. Und das Mittel der Wahl ist paradoxerweise jenes, das Extremisten verachten: der offene Dialog, die vernünftige Auseinandersetzung, das Zuhören und Streiten über Grenzen hinweg.

Offener Dialog und kritischer Diskurs – Antidot gegen Polarisierung

Unsere demokratische Gesellschaft ist auf den Wettstreit der Argumente angewiesen. Nur wenn unterschiedliche Meinungen frei geäußert und geprüft werden, können wir als Kollektiv gute Entscheidungen treffen und aus Fehlern lernen. Diese Überzeugung findet sich bei vielen Denkern der Geschichte: von John Stuart Mill über Jürgen Habermas bis hin zu modernen Psychologen, die die Bedeutung von Meinungsvielfalt für kreatives Problemlösen betonen.

Habermas prägte das Bild vom „eigentümlich zwanglosen Zwang des besseren Arguments“. Was meint er damit? In einer idealen Diskussion, so Habermas, hat das überzeugendste Argument eine ganz natürliche, unaufdringliche Überzeugungskraft – es setzt sich durch, ohne dass jemand mundtot gemacht werden muss. Voraussetzung dafür ist aber, dass alle Beteiligten bereit sind, einander überhaupt zuzuhören und ihre Position im Lichte guter Gegenargumente auch zu überdenken. Genau hier krankt es in polarisierten Zeiten: Aus Angst, durch Zugeständnisse „zu verlieren“ oder das eigene Weltbild zu erschüttern, verschließen sich viele völlig gegenüber den Gedanken des Gegenübers. Diese Angst-Barriere verhindert, dass das bessere Argument überhaupt zum Zuge kommen kann. Stattdessen wird abgeblockt, personalisiert, polemisiert.

Um zurück zu einer fruchtbaren Streitkultur zu finden, brauchen wir also Mut und Demut. Mut, die eigene Meinung zu sagen – aber auch Mut, Gegenwind auszuhalten und sich notfalls korrigieren zu lassen. Und Demut, indem wir anerkennen, dass niemand im Besitz der ganzen Wahrheit ist, auch wir selbst nicht. Mill schrieb sinngemäß: Selbst wenn alle bis auf einen einer Meinung sind, hätten sie nicht das Recht, den einen zum Schweigen zu bringen. Ebenso wenig hätte der Einzelne das Recht, der Mehrheit den Mund zu verbieten. Dieses Prinzip ist heute wieder aktuell. Es richtet sich gegen jede Form von Zensur oder Canceln – staatlich wie zivilgesellschaftlich.

Eine offene Diskussionskultur bedeutet nicht, dass alles gesagt werden darf, ohne Widerspruch. Im Gegenteil: Es darf und soll widersprochen werden, aber durch Worte, nicht durch Verbote. Wer anderer Meinung ist, kann Paroli bieten, bessere Beweise oder humanere Werte ins Feld führen. Aber er darf den anderen nicht daran hindern, seine Sicht auszusprechen. Sobald wir diese Grenze überschreiten und anfangen, den Diskurs durch Druckmittel zu steuern, verlassen wir das Terrain der Demokratie und begeben uns ins Fahrwasser der Autorität und Angst.

Gerade auch im digitalen Raum müssen wir neue Regeln des Miteinanders finden. Anonyme Empörungsstürme und Shitposts sind das Gegenteil dessen, was Habermas einen rationalen Diskurs nennen würde. Vielleicht sollten wir uns bewusst machen, dass am anderen Ende stets Menschen sitzen – fehlbar, lernfähig, oft vom eigenen Erleben geprägt. Bevor man jemanden „abschaltet“, wäre es konstruktiver, das Gespräch zu suchen. Hannah Arendt betonte die Fähigkeit zur Vergebung als wichtigen politischen Akt: „Vergebung ist der Schlüssel zum Handeln und zur Freiheit“, schrieb sie. Sie meinte damit, dass ohne die Bereitschaft zu verzeihen kein Neuanfang möglich ist – weder für Individuen noch für Gemeinschaften. Übertragen auf unsere Debattenkultur heißt das: Wir müssen zulassen, dass Menschen Fehler machen und daraus lernen dürfen. Wer einen unbedachten oder problematischen Satz geäußert hat, sollte die Chance bekommen, dazuzulernen oder sich zu entschuldigen – anstatt ihn sofort sozial zu vernichten. Denn eine Gemeinschaft, die nicht vergeben kann, erstarrt; sie lässt keine Entwicklung mehr zu. Cancel Culture kennt keine Vergebung – das einmal gefallene Urteil („gecancelt!“) ist endgültig. Arendt hingegen würde entgegnen: Um der Zukunft willen müssen wir die Vergangenheit gelegentlich ruhen lassen und den Menschen ermöglichen, sich zu ändern. Sonst verbauen wir uns die gemeinschaftliche Weiterentwicklung.

Plädoyer für Resilienz und Empathie

Neben dem gesellschaftlichen Dialog müssen wir auch bei uns selbst ansetzen: Wie reagieren wir auf die Zumutungen einer vielfältigen Meinungslandschaft? Fühlen wir uns persönlich angegriffen, wenn jemand vehement anderer Meinung ist? Wie gehen wir mit Kritik um?

Haben wir die innere Stärke, Differenzen auszuhalten, ohne den Anderen gleich zum Feind zu erklären? Hier kommen psychologische und philosophische Impulse ins Spiel, die helfen können, den eigenen Kompass neu auszurichten. Der bereits erwähnte Stoiker Epiktet lehrt uns Gelassenheit gegenüber Unabänderlichem. Wir können nicht kontrollieren, was andere Menschen sagen oder denken, aber wir können kontrollieren, wie wir darauf reagieren. Diese Einsicht kann uns im Eifer politischer Debatten erden: Anstatt jedes provokante Statement als persönliche Kränkung zu empfinden, können wir versuchen, es sachlich zu nehmen oder auch mal darüber zu stehen. Das heißt nicht, Ungerechtigkeiten schweigend hinzunehmen. Doch es bedeutet, nicht in jeden Streit mit Hass oder Verbitterung hineinzugehen, sondern vielleicht mit einem Quäntchen Humor oder zumindest seelischer Stabilität.

Der Psychologe Martin Seligman, Begründer der Positiven Psychologie, hat den Begriff der erlernten Hilflosigkeit geprägt – ein Zustand, in dem Lebewesen (und Menschen) aufgrund negativer Erfahrungen resignieren und nicht mehr an Veränderung glauben. Übertragen auf unsere politische Kultur könnte man sagen: Viele haben das Gefühl, den Extremisten hilflos ausgeliefert zu sein, und reagieren mit Rückzug oder Zynismus. Seligmans Forschung zeigt aber auch einen Weg heraus: Erlernter Optimismus. Das bedeutet, aktiv eine optimistischere, lösungsorientierte Haltung zu kultivieren, ohne die Realität zu verleugnen. Beispielsweise können wir uns angewöhnen, in Konflikten nach Ansätzen zur Verständigung zu suchen, statt sofort das Schlimmste anzunehmen. Wir können uns fokussieren auf positive gemeinsame Werte – etwa den Wunsch nach Frieden, Sicherheit, Gerechtigkeit, den letztlich fast alle Menschen teilen, wenn auch mit unterschiedlichen Ansichten über den Weg dorthin.

Optimismus heißt hier nicht Naivität. „Wenn wir nur positive Emotionen hätten, wäre unsere Spezies schon lange ausgestorben“, scherzt Seligman. Kritik, Empörung, ja sogar Wut haben ihren Platz, um Missstände anzuprangern. Aber sie dürfen nicht zum Dauerzustand werden. Eine demokratische Gesellschaft braucht ebenso Phasen der Konstruktivität, Hoffnung und Zuversicht. Ständiger Kulturkampf zermürbt – im persönlichen Leben wie im öffentlichen. Die Bereitschaft, gelegentlich das Verbindende vor das Trennende zu stellen, zeugt von Stärke, nicht von Schwäche. Es bedeutet, sich nicht von negativen Gefühlen beherrschen zu lassen, sondern proaktiv an einer gemeinsamen Zukunft zu arbeiten.

Empathie ist dabei ein entscheidender Faktor. Können wir uns in die Lage des Anderen versetzen – gerade auch desjenigen, der politisch anders tickt als wir? Was treibt einen jungen Menschen in die Fänge rechtsextremer Parolen? Was motiviert eine linke Aktivistin, der Sprache mit Argusaugen zu bewachen? Oft sind es Ängste, Sorgen, vielleicht auch Verletzungen, die den Nährboden für extreme Haltungen bilden. Wenn wir diese Hintergründe erkennen, können wir den Menschen begegnen, ohne automatisch ihre Position zu übernehmen, aber doch mit einem gewissen Mitgefühl für ihre Menschlichkeit. Das heißt nicht, Extremisten zu pampern oder alles zu entschuldigen – aber es heißt, die Mensch hinter der Meinung wahrzunehmen. Hier schließt sich der Kreis zu Arendts Ruf nach Vergebung und zum Ideal des offenen Dialogs: Wer den anderen noch als Menschen und potentiellen Diskurspartner sieht, nicht als Feindbild, der wird eher das Gespräch suchen und weniger geneigt sein, ihn pauschal zu verurteilen.

Die Haltung der Wildnisschule Lupus: Jenseits von Ideologien

Als Wildnisschule haben wir einen besonderen Blick auf diese gesellschaftlichen Entwicklungen. In unseren Kursen und Veranstaltungen kommen Menschen unterschiedlichster Hintergründe zusammen: unterschiedlich in politischer Einstellung, sozialer Herkunft, Alter, Lebensstil. Was sie eint, ist der Wunsch, in der Natur etwas Ursprüngliches zu erfahren – sei es handwerkliche Fähigkeiten, persönliche Grenzerfahrungen oder ein tieferes Verständnis für die Umwelt. Unter freiem Himmel, am Lagerfeuer oder auf einer gemeinsamen Wanderung relativieren sich viele Unterschiede, die in der städtischen Medienwelt so groß erscheinen. Plötzlich spielt es keine Rolle mehr, wer links oder rechts wählt – wichtiger ist, wer das Feuer entfacht oder wer einem erschöpften Mitwanderer die Hand reicht. Die Natur kennt keine Ideologien.

Diese Erfahrung prägt die Philosophie der Wildnisschule Lupus. Wir positionieren uns bewusst unabhängig von politischen Ideologien und erst recht von extremistischen Tendenzen. Unsere Werte sind Menschlichkeit, Respekt vor allem Lebendigen und ein Lernen von- und miteinander. Das heißt: Extreme Ansichten, die auf Hass oder Ausgrenzung beruhen, haben bei uns keinen Platz. Gleichzeitig heißen wir Menschen mit ihren unterschiedlichen Meinungen willkommen – solange sie bereit sind, anderen auf Augenhöhe und mit Respekt zu begegnen. Gerade diese Vielfalt empfinden wir als Bereicherung. Wenn ein Förster, eine IT-Expertin, ein arbeitsloser Jugendliche und eine pensionierte Lehrerin gemeinsam in der Wildnis ein Floß bauen, entstehen Gespräche und Freundschaften quer über alle sonstigen Grenzen hinweg. Oft merken die Beteiligten erst hinterher, wie nebensächlich die politischen Etiketten waren, die sie sich vielleicht zuvor gegeben hätten.

In der Wildnisschule geht es auch darum, Demut zu lernen – vor der Natur und vor der Gemeinschaft. Wer eine Nacht allein im Wald verbringt, erfährt die eigenen Grenzen. Wer im Team ein Ziel erreichen will, merkt schnell, dass es auf Vertrauen und Kommunikation ankommt. Ideologische Gewissheiten treten demgegenüber in den Hintergrund. Wir erleben es immer wieder: Wenn Menschen aus ihrer Komfortzone heraus- und in die Natur hineintreten, öffnen sie sich oft füreinander. Vorurteile brechen auf natürliche Weise auf, weil man den anderen plötzlich als Menschen erlebt und nicht als Schubladen-Vertreter.

Wir als Team der Wildnisschule Lupus fördern bewusst eine Kultur des Zuhörens und des voneinander Lernens. Das bedeutet, kontroverse Diskussionen sind nicht verboten – im Gegenteil, wir moderieren sie gerne am Lagerfeuer! Aber wir achten darauf, dass sie fair und neugierig geführt werden, nicht fanatisch oder missionarisch. Wir ermutigen unsere Teilnehmenden, sich auch mal in Zurückhaltung zu üben: die Stille des Waldes wirken zu lassen, anstatt ständig die eigene Meinung zu verkünden. Diese Balance zwischen Ausdruck und Stille, zwischen Sprechen und Lauschen, ist in unserer Erfahrung heilsam. Sie schafft den Raum, in dem echte Begegnung stattfinden kann.

In der Wildnisschule gilt: Natur verbindet. Wer gemeinsam einen Fluss überquert, streitet danach selten verbissen über Parteipolitik. Vielleicht ist das romantisch gedacht – natürlich lösen Waldläufe nicht alle gesellschaftlichen Konflikte. Aber wir sind überzeugt, dass die Rückbindung an die Natur und an praktische gemeinsame Tätigkeiten dabei hilft, den Blick fürs Wesentliche wiederzugewinnen. Und das Wesentliche ist: Wir sind alle Teil derselben Gemeinschaft, ob wir nun unterschiedliche Ansichten haben oder nicht. Wir atmen dieselbe Luft, wir wärmen uns an demselben Feuer. Diese Erkenntnis klingt banal, doch sie geht im Lärm der ideologischen Schlachten oft verloren.

Schluss: Einladung zum Dialog – in der Natur und darüber hinaus

Unsere Gesellschaft steht an einem Scheideweg. Möchtest du zulassen, dass Extreme – von rechts wie von links – uns immer weiter auseinandertreiben? Oder besinnst du dich auf die Kraft der Mitte, der Vernunft und des Miteinanders? Die Wildnisschule Lupus lädt dich ein, Letzteres zu wählen. Lass uns gemeinsam den roten Faden wiederaufnehmen, der uns als Gemeinschaft verbindet. Dieser rote Faden besteht aus Respekt, Empathie und der Bereitschaft zur Auseinandersetzung im besten Sinne: nicht als Kampf, sondern als Dialog.

Wir hoffen, mit diesem Essay einen Denkanstoß gegeben zu haben. Vielleicht fühlst du dich in manchem bestätigt, vielleicht haben wir dich auch provoziert – wichtiger ist uns, dass du dich überhaupt mit diesen Fragen auseinandersetzt. Rede mit Freunden und Familie darüber, wie du die aktuelle Polarisierung erlebst. Übe dich darin, anderen zuzuhören, gerade wenn ihr nicht einer Meinung seid. Hinterfrage festgefahrene Überzeugungen – deine eigenen ebenso wie fremde. Suche das Verbindende jenseits aller Differenzen.

Und wenn du Lust hast, dies einmal ganz unmittelbar zu erfahren, dann komm zu uns! In unseren Kursen und Veranstaltungen möchten wir Räume öffnen, in denen ideologiefreie Begegnung möglich ist. Erlebe, wie es sich anfühlt, dich gemeinsam im Wald durchzuschlagen, zusammen ein Feuer zu entfachen oder einfach unter dem Sternenhimmel zu schweigen – um anschließend bei einer Tasse Tee über Gott und die Welt zu reden, ohne Eifer und ohne Angst. Die Wildnisschule Lupus versteht sich als Plattform für ganzheitliches Lernen: körperlich, geistig und sozial. Gerade in polarisierten Zeiten können solche Gelegenheiten Gold wert sein, um aus dem Hamsterrad der Empörung auszusteigen und echte Verbindung zu spüren.

Extremismus und ideologische Verbohrtheit werden nicht über Nacht verschwinden. Aber jeder Schritt weg von den Rändern, hin zur gemeinsamen Mitte, ist ein Gewinn. Machen wir uns gemeinsam auf diesen Weg – Schritt für Schritt, mit offenem Herzen und wachem Verstand. Wir freuen uns darauf, dich dabei zu begleiten.

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