Wildnispädagogik

Alles Wissenswerte über die Wildnispädagogik

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Was ist Wildnispädagogik?

In der Wildnispädagogik geht es um die Verbindung von Mensch und Natur. Sie zeigt Wege zurück zur Natur, indem sie Menschen jeden Alters lehrt, sich draußen zu Hause zu fühlen. Das gelingt den wenigsten von uns auf Anhieb, schließlich verbringen wir unsere Zeit zu rund 90 Prozent in geschlossenen Räumen. Gleichzeitig fasziniert die Wildnispädagogik auch in Europa immer mehr Menschen. Warum das so ist und was dahintersteckt, wird in diesem Artikel ausführlich beleuchtet.

Definition Wildnispädagogik

Die Wildnispädagogik ist ein Konzept für mehr Naturverbindung und Potenzialentfaltung. Es basiert auf dem Wissen und den Traditionen der Naturvölker. Sie betrachtet deren Lebensweise sowie Umgang mit der Natur und fragt: Inwiefern lassen sich diese Verhaltensweisen und Fertigkeiten für die Herausforderungen unserer Zeit nutzen? Als ganzheitlicher Ansatz beschäftigt sich die Wildnispädagogik dabei sowohl mit dem Verhältnis zur Tier- und Pflanzenwelt als auch mit Aspekten wie Gesundheit, Kommunikation, Leben in Gemeinschaft, Ernährung, Erziehung, Spiritualität und vielem mehr. Wissen vermittelt die Wildnispädagogik nicht im Frontalunterricht, sondern instinktiv durch Selbsterfahrung in der Natur.

Wir brauchen unsere Kinder nicht erziehen, sie machen uns sowieso alles nach.
Karl Valentin

Der Kojote als trickreicher Lehrmeister

Die Lehrmethode in der Wildnispädagogik wird auch als Coyote-Mentoring bezeichnet. Sogar viele Kurse in Wildnisschulen tragen diesen Titel. Wie wurde ausgerechnet der Kojote zu einer Art „Wappentier“ der Bewegung? In der indigenen Tradition von Stalking Wolf verkörpert der Prärie- oder Steppenwolf Naturverbindung gepaart mit Schlauheit und einer kreativen Herangehensweise an Probleme.

Kojoten spielen eine wichtige Rolle in der Mythologie der Native Americans. Dort tauchen sie typischerweise als listige „Trickster“ auf. Mit ihren zunächst verrückt erscheinenden, spielerischen Ideen bringen Trickster in menschlicher Gestalt oftmals die Dinge wieder in Ordnung.

Im realen Leben hat sich der wild lebende Hund geschickt an die menschliche Entwicklung angepasst: Auf dem amerikanischen Kontinent erobern die schlauen Kojoten laufend neue Lebensräume – ursprünglich beheimatet im Mittleren Westen der USA sind sie heute von Alaska bis Mexiko und Costa Rica zu finden1. Und das sowohl in Präriegebieten als auch in dichten Wäldern und mitten in Stadtgebieten.

Mentoring oder die Kunst des Fragens

Welcher Vogel macht dieses laute Geräusch? Was für eine Spur ist das? Fragen sind ein unerschöpfliches Werkzeug, denn sie wecken Neugier. In indigenen Kulturen weltweit vermitteln Mentor:innen notwendige Fähigkeiten, indem sie Fragen stellen und zum Nachdenken anregen. Dabei ist die Natur die eigentliche Lehrerin.

Wenn ein Kind fragt: „Was ist das?“ und der Mentor antwortet: „Das ist eine Waldschnecke“, dann sagt das Kind vermutlich „Ach so“ und läuft weiter. Antwortet er oder sie stattdessen mit einer Gegenfrage wie „Wow, wie bewegt es sich wohl?“ oder „Ich frage mich, wie es isst?“, schaut das Kind genauer hin. Womöglich imitiert es mit seinem Körper die arm- und beinlose Fortbewegung der Schnecke und beobachtet gebannt, wie das Tier an einem Blatt knabbert. So kann es vorkommen, dass sich das Kind 20 Minuten intensiv mit einer Waldschnecke beschäftigt.

Anhand dieser kleinen Geschichte seines Mentors Tom Brown Jr veranschaulicht Jon Young in einem Podcast-Interview die Besonderheit des Mentoring-Konzepts. Das Beispiel illustriere „den Unterschied zwischen Informationstransfer und Coyote Mentoring“. Beim Coyote-Mentoring-Konzept geht es darum, möglichst viele Sinne anzusprechen, damit eine Beziehung zu einem Lebewesen und damit zur Natur entsteht.

Diesem Ziel dienen übrigens auch die 13 Kernroutinen in der Wildnispädagogik, doch dazu später mehr. Zunächst stellt sich die Frage: Warum spielt der Kojote eine so wichtige Rolle für die Wildnispädagogik?

Erzähle mir, und ich vergesse.
Zeige mir, und ich erinnere.
Lass es mich tun, und ich verstehe.
Konfuzius

Test: Wie naturverbunden bin ich?

Wie lange fühle ich mich draußen in der Natur wohl? Zwei Minuten, eine Stunde, einen Tag? Ein guter Ort um sich selbst auf die Probe zu stellen ist der nächstgelegene Wald. Der beste Zeitpunkt ist immer – egal ob es regnet, schneit oder die Sonne flimmert. Und noch eine gute Nachricht: Sich in der Natur heimisch zu fühlen ist Übungssache. Die Wildnispädagogik bietet dafür ein Netz an Möglichkeiten. Einige davon kann jede:r auf eigene Faust ausprobieren, wie zum Beispiel:

  • den Sitzplatz
  • das kreative Fragenstellen
  • das freie Wandern

Mehr über die 13 Kernroutinen gibt es hier zu lesen.

Woher kommt die Wildnispädagogik?

Entstanden ist das Konzept der Wildnispädagogik in Nordamerika, geprägt durch Tom Brown Jr. und seinen Mentor, den Apachen Stalking Wolf . „Ich lernte von Stalking Wolf eine Kunst, die ich auf alles anwenden kann, was mir begegnet. Ich lernte Fährten zu lesen, und zwar nicht allein die Fußabdrücke von Mensch oder Tier, sondern jede Art von Veränderung oder Störung im natürlichen Gesamtbild,“ erinnert sich Tom Brown Jr. in „Der Fährtensucher“.

Gemeinsam mit Jon Young sammelte er das Wissen von Naturvölkern rund um die Erde und entwickelte es mit Elementen moderner Erlebnispädagogik zu dem weiter, was heute als Wildnispädagogik in Wildnisschulen international gelehrt wird. Daneben gibt es zahlreiche Bücher über Wildnispädagogik, als Standardwerk gilt der Coyote Guide2.

Ich lernte von Stalking Wolf eine Kunst,
die ich auf alles anwenden kann,
was mir begegnet.
Tom Brown Jr.

Checkliste: Was lernen Wildnispädagogen und Wildnispädagoginnen in der Ausbildung?

  • Naturverbindung und Selbsterfahrung
  • Coyote Teaching (indigene Lehrmethode)
  • Selbstorganisation und persönliche Weiterentwicklung
  • Wissen über die Zusammenhänge in der Natur
  • Verantwortung übernehmen
  • Gemeinschaft schätzen
  • Psychische und körperliche Stärke
  • Handwerkliche Fertigkeiten
  • Nachhaltiges Handeln

Mehr über die Inhalte einer wildnispädagogischen Ausbildung

Der Begriff Wildnispädagogik

Aus dem englischen „Wilderness Education“ wurde im deutschsprachigen Raum der Begriff „Wildnispädagogik“. Vorne steht die Wildnis, eine von Menschen weitgehend unberührte Natur, nicht gezähmt oder „kultiviert“. Hinten steht die Pädagogik, ein aus dem Altgriechischen stammender Begriff für die Wissenschaft von der Bildung und Erziehung (nicht nur) von Kindern und Jugendlichen. Damit bringt die Wortschöpfung „Wildnispädagogik“ die Erziehung im Erfahrungsraum Natur auf einen Nenner. Interdisziplinär umfasst sie unterschiedliche Ausprägungen und Spielarten, so wie ein wilder Wald viele Arten von Pflanzen und Tieren vereint. Diesen Artenreichtum zu kennen ist übrigens nur eines der facettenreichen Ziele der Wildnispädagogik.

Wildnispädagogik und das Wesen der Natur

Das Wesen der Natur kennen und vermitteln zählt zu den Kernaufgaben der Wildnispädagogik. Gemeint ist ein Verständnis der Natur als eine selbstorganisierende Ordnung, in der alles miteinander in Beziehung steht. Jeder Existenz in dieser Ordnung wohnt ein eigenes Potenzial inne.

Das gilt für eine Blume genauso wie für einen Baum, ein Eichhörnchen, ein Rotkehlchen oder einen Menschen. Das selbstorganisierende Potenzial kommt aus sich selbst heraus zur Entfaltung, frei und spielerisch. Zum Beispiel trägt ein Samen eines Baumes bereits das Potenzial und den Bauplan in sich, ein großer Baum zu werden und Früchte zu tragen.

Ebenso hat jeder Mensch den Lehrplan und das Potenzial in sich, seine Gaben und Talente zum Blühen zu bringen. Im Jahreskreis beobachten wir die Potenzialentfaltung der Natur wie selbstverständlich, doch im Menschen ist sie häufig blockiert durch gesellschaftliche Normen und Rahmenbedingungen. Das Coyote Mentoring in der Wildnispädagogik unterstützt die selbstorganisierende Ordnung im Menschen: Mit Impulsen wie Fragen und Übungen weitet sie den Raum, so dass Menschen sich für die Talente in ihrem Kern öffnen und diese entfalten können.3

Ziele der Wildnispädagogik

Die aufsteigende Morgensonne hüllt mich und meinen Sitzplatz unter der Weide in eine Decke aus goldenem Licht. Ich will meine kalten Glieder strecken, doch ich halte still, um den einsetzenden Gesang der Vögel nicht zu stören. Mein Zeitgefühl ist längst einem geduldigen Lauschen und Staunen gewichen, als ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnehme.

Auf der Lichtung zu meiner Linken erspähe ich einen Fuchs. Er hält inne und sieht zu mir herüber. Mein Herz hüpft leise vor Freude. Auch der Fuchs scheint zu spüren, dass ich kein Feind bin. Seine goldenen Augen blicken geheimnisvoll tief zu mir herüber, bis er sich geschmeidig abwendet und ins Unterholz entschwindet. Ich atme aus und bemerke, dass ich während der gesamten Begegnung die Luft angehalten habe.

Solche Erlebnisse in der Natur wünschen Wildnispädagog:innen ihren Schützlingen, denn sie wecken die Begeisterung für die Natur und das Draußensein. Die Idee dahinter: Wer sich für etwas begeistert, will mehr darüber erfahren und dieses Wissen teilen. Doch was genau sind die Ziele der Wildnispädagogik?

Wenn du nach einer halben Stunde Waldspaziergang einen ganzen Tag davon erzählen kannst, dann hast du die Wildnispädagogik verinnerlicht.
Maurice Ressel, Wildnisschule Lupus

Die Wildnispädagogik fördert eine positive, ganzheitliche Entwicklung als Mensch. Sie hilft „modernen“ Menschen, sich wieder als Teil der Natur zu begreifen. Dafür sucht sie Antworten bei den Indigenen, die seit Generationen mit der Natur leben.
Die Ausbildung in Wildnispädagogik vermittelt das Wissen und die Fähigkeiten, die ein Coyote-Mentor braucht, um selbst eine tiefe Verbindung zur natürlichen Umwelt herzustellen und seinen Schüler:innen ebenfalls den Weg zur Naturverbindung zu weisen.

Eine Grafik, die die wichtigen Ziele der Wildnispädagogik aufzeigt.

Auf dem Weg zum Ziel entfaltet die Schule der Wildnispädagogik ihren eigenen Zauber: Wer Sonnenaufgänge erleben, Spuren erkennen und Feuer aus dem Nichts erschaffen kann, fühlt sich intensiv als Mensch und erlebt eine nie gekannte Zufriedenheit.

Die vier Säulen der Wildnispädagogik

Die vier Säulen der Wildnispädagogik unterstreichen den ganzheitlichen Ansatz dieser Lehrmethode. Mehr darüber verrät ein Blick auf die Inhalte der Wildnispädagogik.

Wie die Verbindung mit der Natur helfen kann, sich selbst und seinen eigenen Zielen näherzukommen, darum geht es im Abschnitt „Was macht die Natur mit mir“.
Doch vorher lohnt es sich, einen Schritt zurückzutreten und zu schauen, ob die Idee einer starken Naturverbindung überhaupt Platz hat in unserer sich rasant drehenden Welt.

Verbindung zu sich selbst

Selbstschulung
Körperliche und geistige Stärke

Verbindung zur Natur

Bewusstsein
Survival- und Wildniswissen

Verbindung zu den anderen Menschen

Leben in Gemeinschaft
Kommunikation (Truthspeaking)
Verantwortung übernehmen

Weitergabe von Wissen

Coyote-Teaching
Nachhaltiges Handeln
Vorbild sein

Warum Wildnispädagogik in einer digitalen Welt?

Wir leben in einer digitalen Welt. Mensch und Technik „verschmelzen” – und das nicht nur in der Industrie. Ohne Smartphone oder Smartwatch fühlen sich viele längst unvollständig. Da erscheint es geradezu anachronistisch, sich der Natur zuzuwenden. Wenn technische Lösungen bald scheinbar all unsere Bedürfnisse erfüllen können, brauchen wir da noch die Vielfalt der Natur und eine Ausbildung wie die Wildnispädagogik?

Spannungsfeld Natur und Technik

Ob Kühlschrank oder Waschmaschine, Motorsäge oder Zentralheizung: Technische Errungenschaften vereinfachen unseren Alltag und machen uns unabhängig. Wir sind der Natur im Normalfall nicht mehr ausgeliefert. Das ermöglicht uns einen angstfreien und spielerischen Zugang zur Natur, wie ihn zum Beispiel die Wildnispädagogik eröffnet.

Problematisch wird es, wenn wir – befeuert durch die Technologisierung – unseren Zugang zur Natur kappen. Studien aus den USA und Großbritannien haben ermittelt, dass wir rund 90 Prozent unserer Zeit in geschlossenen Räumen verbringen. Egal in welchem Lebensbereich man schaut, das Zugehörigkeitsgefühl zur Natur und das Wissen um ihre zyklischen Abläufe haben wir weitgehend verloren. Im Supermarkt bekommen wir ganzjährig Erdbeeren, Kinder kauern vor Bildschirmen anstatt draußen zu toben. Der Bewegungsmangel in der Schule, bei der Arbeit und in der Freizeit begünstigt zusammen mit einem Überangebot an Essbarem Haltungsschäden und Übergewicht. Ergo: Die Abkehr von der Natur bekommt uns nicht.

Krankheitsbild Natur-Defizit-Syndrom

„Iiiiih, da ist eine Spinnne!“ oder „Ich mag mich nicht auf dem Boden sitzen, die Erde ist schmutzig“, solche Sätze bekommen Erzieher:innen nicht selten zu hören. Denn bereits Kindergartenkinder sind oft „Zimmerpflanzen“, sozialisiert in einer urbanen Umgebung.

Sie kennen sich am Tablet vielleicht besser aus als ihre Eltern, doch sie wissen nicht, wie es sich anfühlt, auf Bäume zu klettern. Dabei verspricht das Erleben natürlicher Kreisläufe nicht nur ein spannendes Spiel, es beeinflusst die Persönlichkeit. Inzwischen befasst sich eine eigene Forschungsrichtung mit dem sogenannten Natur-Defizit-Syndrom (NDS).

Sie betrachtet das Phänomen einer zunehmenden Entfremdung von der Natur und wie sich dies auf Kinder und Jugendliche sowie auf die Gesellschaft an sich auswirkt. Den Begriff Natur-Defizit-Syndrom geprägt hat der nordamerikanische Autor Richard Louv in seinem Buch „Last Child in the Woods. Saving our Children from Nature-Deficit Disorder“. In der Einleitung schreibt Louv: “Within the space of a few decades, the way children understand and experience nature has changed radically. The polarity of the relationship has reversed. Today, kids are aware of the global threats to the environment—but their physical contact, their intimacy with nature, is fading. That’s exactly the opposite of how it was when I was a child.”

Kinder wissen heute um die Bedrohung der Natur und schauen sich Tierfilme an, doch sie erleben die freie Natur nur noch selten selbst. Das hat Folgen.

Naturschutz wird schon in der Schule gepredigt. Er bleibt Theorie, wenn die Lehrer ihre wichtigsten Komplizen vor der Schultür vergessen: Bäume und Vögel, Käfer und Blumen, Wasser, Matsch und Erde.
Dr. Andreas Weber

Sind Enten gelb und Kühe lila?

Der Großteil der Kinder kennt Disneys Bambi und die lila Kuh aus der Schokoladenwerbung, aber nur ein kleiner Teil hat Zeit auf einem Bauernhof verbracht. Zahlreiche Studien thematisieren die wachsende Naturentfremdung (nicht nur) von Kindern.

So schreibt Rainer Brämer schon 1998 in „Das Bambi-Syndrom: Naturverklärung als Naturentfremdung“, die Verniedlichung und gleichzeitige Überhöhung der Natur habe fatale Folgen für die Beziehung zwischen Jugendlichen und der natürlichen Umwelt: „Darf man ein scheinbar verlorenes Kitz nicht anfassen, so muss man auch von der armen Natur möglichst die Hände lassen.“ Brämer schlussfolgert: „Wie aber soll jemand, der die Natur nur mit schlechtem Gewissen betritt, ein angemessenes Verhältnis zu ihr entwickeln?“

Im Übrigen wirkt sich das Natur-Defizit-Syndrom nicht nur auf die Natur des Menschen aus, sondern auch auf seine Gesundheit.

Depressionen könnten im Jahr 2030 in den Industrienationen
zur häufigsten Krankheit werden.
Depressionsatlas der Techniker Krankenkasse, Januar 2015

Nur noch schnell das Klettergerüst desinfizieren

In den Industrienationen haben wir uns mehrheitlich zurückgezogen in gleichmäßig temperierte Räume. Zum Abschied vom natürlichen Kreislauf kommt eine stellenweise übersteigerte Hygiene.

Keine Frage: gründliches Händewaschen beugt Ansteckungen vor. Doch zu viel Sauberkeit kann krank machen – so vertreibt zum Beispiel exzessives Putzen „gute“ Mikroben und kann damit gefährlichen Erregern den Weg bereiten.

Dabei meinen wir es nur gut: Da wird zum Beispiel aus Angst vor Erregern noch schnell das Klettergerüst auf dem Spielplatz desinfiziert, bevor sich der Nachwuchs dranhängen darf. Die Spanne reicht von der allmorgendlichen Dusche über mit Desinfektionsmittel bewaffnete Eltern bis hin zu krankhaften Waschzwängen. Wenn sich schon Papa und Mama vor Spinnen oder Regenwürmern ekeln, übernehmen Kinder diese Verhaltensmuster oft unbewusst.

Dabei bestehen wir genauso aus organischen Stoffen wie der Wurm. Nach unserem Tod kehren wir ebenfalls in die Erde zurück und werden „be-erdigt“. Und auch wenn die menschliche Spezies Raumschiffe bauen und Herzen transplantieren kann, sind wir keine rationalen Wesen: Der Code, der seit Jahrmillionen in uns steckt, lässt sich nicht durch wenige Jahrzehnte Technologie überschreiben.

Denn das wissen wir – die Erde gehört nicht den Menschen, der Mensch gehört zur Erde. Alles ist miteinander verbunden, wie das Blut, das eine Familie vereint. Alles ist verbunden. Was die Erde befällt, befällt auch die Söhne der Erde. Der Mensch schuf nicht das Gewebe des Lebens, er ist darin nur eine Faser. Was immer ihr dem Gewebe antut, das tut ihr euch selber an.
Chief Seattle, 1855

Wenn Naturentfremdung krank macht

Dass die Abkehr von der Natur der menschlichen Gesundheit nicht gut tut, legt ein Blick auf die Krankheitsstatistik nahe. Mittlerweile führen psychische Erkrankungen, Autoimmunerkrankungen wie Allergien und Zivilisationskrankheiten wie Adipositas, Bluthochdruck und Diabetes – neben Krebs – die Ranglisten an.

In seinem Buch „Mehr Matsch! Kinder brauchen Natur“ schreibt Dr. Andreas Weber bereits 2011: „Parallel zu dieser Entfremdung der Kinder von der Landschaft hat unter ihnen die Zahl schwerer psychischer Leiden in den letzten zwei Jahrzehnten sprunghaft zugenommen. Dem Freiburger Psychologen Joachim Bauer zufolge weisen in Deutschland knapp über 50 Prozent der Jugendlichen chronische psychosomatische Störungen auf. Ein knappes Sechstel aller Kinder krankt an Depressionen, Angst- und Essstörungen; jedes fünfte quält sich mit dem Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom ADS durch die Schule.4

Einen direkten Zusammenhang zwischen mangelnder Wildnis und kindlichen Störungen sieht auch der Autor Richard Louv („Das letzte Kind im Wald“) – seiner Ansicht nach müsste ADS in Wahrheit NDS heißen, „Natur-Defizit-Störung“.

Ist die Natur also ein Allheilmittel? Sicherlich nicht, doch sie wirkt nachweislich wohltuend und bietet einen Raum, in dem sich Menschen jeden Alters entfalten können, geistig und körperlich. Die heilsame Wirkung der Natur und die Wildnispädagogik als einen möglichen Zugang – darum geht es im nächsten Kapitel „Was macht die Natur mit mir?“.

Was macht die Natur mit mir?

Die wohltuende Wirkung der Natur aus wissenschaftlicher Sicht

Ob Waldbaden, Wandern oder schlicht in der Mittagspause eine Runde Spazierengehen: Natur ist heilsam. Das besagen – neben dem gesunden Menschenverstand – längst auch zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten. Wer nach einem stressigen Arbeitstag abschalten oder neue Kraft tanken will, dem tut ein Aufenthalt im Grünen gut.

Eine umfangreiche Studie von Susana Mourato (London School of Economics) und George Mackerron (University of Sussex) von 2013 trägt sogar den Titel „Happiness is greater in natural environments5”. Mit einer eigens entwickelten App befragten die Forscher mehr als 20.000 Teilnehmende und registrierten gleichzeitig deren Aufenthaltsort, das Wetter und die aktuelle Tätigkeit. Egal ob Wald, Wiese oder Meer: Im Durchschnitt zeigten sich die Menschen in natürlichen Lebensraumtypen signifikant zufriedener als in städtischer Umgebung.

Was faszinierend klingt, ist längst wissenschaftlich erwiesen: Ein gemütlicher Waldspaziergang lässt das Herz ruhiger schlagen und senkt den Blutdruck. Während der Stresspegel nachlässt, steigt die Stimmung und das Selbstwertgefühl nimmt zu. Laut Dr. Jo Barton von der University of Essex tritt dieser Effekt sogar bereits nach fünf Minuten an der frischen Luft ein – sei es beim Angeln, Gärtnern oder Spazieren gehen. Neben der psychischen steigert die Natur auch die körperliche Widerstandskraft. So gesunden Patient:innen schneller und benötigen weniger Schmerzmittel, wenn sie aus dem Krankenzimmer ins Grüne blicken.

Während wissenschaftliche Forschungen die heilsame Wirkung der Natur kognitiv betrachten, nähert sich die Wildnispädagogik intuitiv dem Thema an. Das Coyote Mentoring fördert die achtsame Verbundenheit von Mensch und Natur. Dabei räumt der wildnispädagogische Ansatz der Natur eine aktive Rolle ein: Der Mentoring-Prozess findet draußen statt und soll die Sinne immer mehr öffnen für das Geschehen in der Natur, für Pflanzen, Tiere, Gerüche oder das Wetter. Das wirkt sich auf die Persönlichkeit und den Erfahrungshorizont der Lernenden aus. Mehr darüber im folgenden Abschnitt.

Das Natur-Defizit-Syndrom heilen

Im Alltag arbeiten die meisten von uns heute im Austausch gegen Geld. Damit bezahlen wir das Essen, die warme Wohnung, die Kleidung, die Art der Fortbewegung und vieles mehr. Informationen bekommen wir auf Bildschirmen serviert. Wir brauchen unser Essen nicht selbst sammeln oder erlegen. Wir brauchen auch keine handwerklichen Fähigkeiten, um zu heizen, eine Behausung, Kleidung oder Geschirr anzufertigen. Doch was für uns alltäglich ist, tut uns nicht unbedingt gut: Das bereits beschriebene Natur-Defizit-Syndrom lässt uns im scheinbaren Überfluss oft mit einem nagenden Gefühl der Unzufriedenheit zurück. Weil wir unsere Sinne nicht mehr gebrauchen, fällt es uns mitunter schwer, den Sinn im Leben zu finden.

Die Wildnis ist es, die die Welt bewahrt.
Henry David Thoreau

An der Stelle baut die wildnispädagogische Ausbildung eine Brücke vom Denken zum Fühlen. Sie hilft, die Sinne freizulegen. Und sie lehrt, ohne moderne Technologien in einer natürlichen Umgebung zu leben. Unmittelbar im Hier und Jetzt. Wildnispädagogik vermittelt eine Vielfalt an Fertigkeiten und Fähigkeiten und macht aus den Teilnehmerinnen und Teilnehmern nebenbei Survival-Experten.

Vor allem aber rührt das Eintauchen in die Natur an den Wurzeln des menschlichen Bewusstseins. „Eins werden mit der Natur“ fördert in der Erfahrung der Wildnispädagog:innen eine lebensbereichernde Freude und positive Haltung gegenüber den Herausforderungen des Lebens. Wer diesen Weg geht, fühlt sich zugehörig, stärkt das Selbstbewusstsein und setzt sich intensiv mit den eigenen Zielen und Wünschen auseinander.

Derart gestärkt ist es dem Großteil ein Anliegen, Vorbild für andere zu sein und das Erlernte als Mentor:in weiterzutragen.

Exkurs: Indigenes Wissen für globale Probleme

Praxisbeispiel „Fish in the Fields”

Reis ist eines der wichtigsten Getreide der Welt. In einigen asiatischen Sprachen ist „Reis“ sogar dasselbe Wort wie „Essen“. Doch der Anbau von Reis braucht viel Wasser und verursacht Methan. Ein Projekt in Kalifornien will das ändern: Mit Hilfe von indigenem Wissen.

Es kombiniert Reisanbau und Fischzucht. Die Idee ist nicht neu – schon die Azteken haben sie praktiziert. Die Dong im südchinesischen Guangxi tun dies bis heute. Sie züchten Fische in Reisfeldern. Die Fische schützen den Reis vor Schädlingen und düngen ihn durch ihre Ausscheidungen.

So bringt auch das „Fish in the Fields“ in Kalifornien Artenschutz und Umweltschutz zusammen. Und zeigt: Die Grundidee der Wildnispädagogik – indigene Traditionen für aktuelle Probleme zu nutzen – ist praxisnah und skalierbar.

Frei sein wie ein Vogel und zurück zu den einfachen Dingen im Leben. „Back to the roots“ ist heute jedermann ein Begriff. Wenn man sich an einem Stein, oder sei es die Astgabel, die als Topfhalter umgebaut wird, erfreuen kann, dann ist man der heutigen Konsumwelt zumindest ein Stück weit erfolgreich entflohen!“….. „Das Verlangen nach „weniger ist mehr“ liegt im Trend
Vanessa Blank: Frei und Wild (at Verlag)

Das Transformationspotenzial der Wildnispädagogik

Melanie möchte gerne mit den anderen Kindern im Stadtpark verstecken spielen. Doch sie hat Angst vor Spinnen. So sehr, dass sie sich nicht auf den Boden hocken mag. Der Coyote-Mentor beobachtet ihre innere Zerrissenheit und bietet an, ihre Verstecke vorab nach Spinnen abzusuchen. Zögernd geht Melanie auf das Angebot ein.

Mit jeder Runde „Verstecki“ wird ihre Angst kleiner und ihre Begeisterung größer. Sie hat die Grenzen ihrer Komfortzone erweitert. Diese Geschichte von Evan McGown6 illustriert im Kleinen das große Ganze: Wildnispädagogik kann über die Rückbesinnung zur Natur eine Brücke bauen zwischen Naturentfremdung und Naturverbindung. Doch wieso brauchen schon Kinder oft eine solche Brücke?

Woher kommt die große Orientierungslosigkeit?

Als Teil der Natur ist jedes Lebewesen dazu bestimmt, sein innewohnendes Potenzial zu entfalten. So ist im Samenkorn bereits der ganze Baum angelegt. Dieses Prinzip der „Potenzialentfaltung“ wird überall in der Natur sichtbar. Auch Menschenkinder folgen in den ersten Lebensjahren ihrem inneren Kompass aus Neugier und Entdeckerfreude. Im Alter von vier oder fünf Jahren stellen Kinder laut Statistik bis zu 500 Fragen – pro Tag. Doch Schule und „moderne“ Gesellschaft quetschen die meisten bald in vorgegebene Formen. Indem sie bestimmte Verhaltensweisen fördern und andere abstrafen

Auf diese Art bringt unsere derzeitige Lebensweise Menschen dazu, sich aus dem natürlichen Prozess auszuklinken. Das erschwert die persönliche Entfaltung. Tatsächlich wissen die wenigsten Menschen heute, was sie mit ihrem Leben anfangen wollen. Die große Orientierungslosigkeit betrifft nicht nur Schulabgänger:innen. Häufig spüren Menschen eine Leere in sich, einen Mangel an Wurzeln, Sinn, Anerkennung oder Liebe. Der Konsum von Dingen, Reisen, Erlebnissen oder sogar Drogen ist eine Ersatzbefriedigung, die diese Leere nicht dauerhaft füllen kann.

Entfalten ist das Wesensmerkmal alles Lebendigen
Gerald Hüther

Eine Brücke zurück zur Natur

Anstatt Symptome zu bekämpfen, baut die Wildnispädagogik eine Brücke zurück zur Natur. In dieser Rückverbindung steckt die Chance, das eigene Leben zu gestalten und mit Sinn zu füllen. „Sich erden“ heißt, mit der Natur und sich selbst in Einklang zu kommen. Das bestätigt auch die moderne Hirnforschung. Für Hirnforscher Gerald Hüther sind Verbundenheit und Autonomie die beiden elementaren menschlichen Bedürfnisse. Wir wollen dazugehören und gleichzeitig unser Leben frei gestalten. Glücklich ist, wer es schafft, beide Grundbedürfnisse in Einklang zu bringen. Diese Einheit aus Freiheit und Gemeinschaft erleben Menschen in der Natur: Sie fühlen sich verbunden, schöpferisch und selbstbewusst. Im Zuge dieser Potenzialentfaltung tritt der Wunsch nach Konsum und wirtschaftlichem Wachstum zurück. Stattdessen gewinnen Werte wie Gemeinschaft, Autonomie und Naturverbindung die Oberhand.

Gerald Hüther schreibt in seinem Buch „Wege aus der Angst: Über die Kunst, mit der Unvorhersehbarkeit des Lebens umzugehen“: „Die wirklich großen Transformationsprozesse beginnen alle mit der schmerzlichen Einsicht, dass die Vorstellungen, denen Menschen bisher gefolgt sind und auf deren Grundlage sie ihr Leben gestaltet haben, unzutreffend und deshalb irreführend waren.(…) Manchmal erleben wir das, was wir dann plötzlich zu sehen beginnen, wie eine Offenbarung, und wir begreifen, dass der Zauber des Lebens nicht darin besteht, dass es funktioniert und Spaß macht. Dass wir mit unserem Dasein eingebettet und getragen sind im großen Fluss des Lebens, das sich selbst immer wieder neu organisiert, vielleicht ist es sogar zutreffender, wenn wir sagen „neu erfindet“.“

Sich neu erfunden hat auch die Familie von Susanne Dyrchs, die mit ihren Kindern um die Welt und dabei zu sich selbst gereist ist. In ihrem Erlebnisbericht „WirZeit” gibt die Autorin ein eindrückliches Gespräch mit ihrem kleinen Sohn Frieder wieder: „„Was denkst du macht eigentlich eine glückliche Kindheit aus?“ Ehrlich gesagt rechne ich mit gar keiner Antwort, da die Frage relativ verquer und kopflastig für einen Dreijährigen daherkommen muss. Schnell werde ich eines Besseren belehrt. „Mit euch in der Natur sein, das ist Glück.“ Aha. Auch wenn hier das Sein sicherlich das Bewusstsein bestimmt, bin ich beeindruckt von der Weisheit, die in seiner Aussage liegt. Gemeinsam. Natur. Glück.7

Transformation

Die lateinische Vorsilbe „trans“ bedeutet „hinüber“ oder „jenseits“. Sie steht für räumliche oder inhaltliche Veränderung. Zum Beispiel Transdiziplinär, Transgender, Transporter. Trans – form – ation bedeutet, etwas oder jemand wandelt sich in eine andere Form. Wie die Raupe zum Schmetterling

„Becoming nature“

Der Mentoring-Prozess in der Wildnispädagogik initiiert diese Art der Transformation. Einen Wandlungsprozess, der Menschen hilft, in ihre eigene Kraft zu kommen. Mit Fragen lädt er die Lernenden ein, zur Natur zu werden – „becoming nature“.

Jon Young erklärte in einem Interview: „Ich finde heraus, worauf der Lernende neugierig ist, und verbinde dies immer gründlicher mit all seinen fünf Sinnen, bis zu dem Punkt, wo er vollständig im Augenblick verankert ist“. Als Mentor sieht Young seine Aufgabe darin, die richtigen Fragen zu stellen: „Wenn da keiner ist, um diese ganzen Fragen zu stellen, wird er wohl nie aus seinem Kopf herausgehen und seine Sinne auf alle Facetten der natürlichen Welt richten.“

Dabei sei es dieses Eintauchen in die Natur, das uns lebensbereichernde Freude bringe und die Fähigkeit, positiv an die Herausforderungen des Lebens heranzugehen. Im verbindenden Effekt des Naturerlebens sieht Jon Young die Möglichkeit einer »gigantischen Transformation« der Welt. Übrigens ganz ohne Religion, Ideologie oder Politik.

Die natürliche Welt fördert die Selbstverwirklichung deshalb so sehr, weil die Natur selbst völlig verwirklicht ist.
Warren Moon, Wilderness Awareness School8

Naturverbindung: Wie wirkt Wildnispädagogik?

Positive Auswirkungen der Naturverbindung, zusammengefasst nach Jon Young:

  • Glück: die Fähigkeit zu kindlichem Staunen, Neugierde und Freude
  • Vitalität: sich körperlich stark fühlen und voller Energie
  • Konzentration: gut zuhören und als Mentor für andere da sein
  • Einfühlungsvermögen: für Menschen und andere Lebewesen
  • Weitsicht: Eine starke Ethik basierend auf der Erkenntnis unserer gegenseitigen Abhängigkeit; Engagement für andere, für die Umwelt und für zukünftige Generationen
  • Lebendigkeit: Dankbarkeit und Wertschätzung des Lebens, mit Licht und Schatten
  • Liebe: Ein hohes Maß an Verständnis, Mitgefühl und Vergebung
  • Präsenz: Leben im Jetzt, mit ruhigem Geist und einer kreativen Herangehensweise

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge ziehn. Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen, aber versuchen will ich ihn.
Rainer Maria Rilke

Eine kurze Geschichte der Wildnispädagogik

Die Wohlstandsgesellschaft der Jäger und Sammlerinnen

Der Ursprung der Wildnispädagogik ist viel älter als der Begriff selbst. Er liegt bei den indigenen Völkern wie auch in der Lebensweise unserer Vorfahren. Rund neunundneunzig Prozent seiner Geschichte lebten Menschen als Jäger und Sammlerin in der Wildnis. Die Wildnis war ihr Zuhause – nährend und bedrohlich, verehrt und gefürchtet zugleich. Wir können davon ausgehen, dass unsere Vorfahren sich tief verbunden fühlten mit der Welt, die sie umgab. Für sie war die Wildnis die „große Mutter“, die sie ernährte und der sie Respekt und Ehrfurcht entgegenbrachten.

Der US-amerikanische Anthropologe Marshall Sahlins schreibt in seinem von Jochen Schlink übersetzen Aufsatz „Die ursprüngliche Wohlstandsgesellschaft“: „Jäger-und-Sammlerinnen-Gesellschaften benötigten pro Kopf und Jahr weniger Energie als irgendeine andere menschliche Kulturform. Und doch zeigen Untersuchungen, dass es eben die Gesellschaft der Jäger-und-Sammlerinnen war, die das Prädikat „ursprüngliche Wohlstandsgesellschaft“ verdient, eine Gesellschaft, in der sämtliche materiellen Bedürfnisse der Menschen mit Leichtigkeit erfüllt werden konnten.“

Den charakteristischen Rhythmus der Altsteinzeit beschreibt der Autor als „ein oder zwei Tage Arbeit, ein oder zwei Tage Freizeit, wobei letztere unzusammenhängend im Camp verbracht wird.“ So sammelte eine Frau an einem Tag oftmals genug Nahrung, um ihre Familie davon drei Tage lang zu versorgen. Den Rest der Zeit konnte sie relativ frei verbringen. Denn für Routinearbeiten wie Kochen, Feuerholz sammeln und Wasser holen brauchte sie wohl nur eine bis drei Stunden am Tag. Auch die Jagd war kein Geschäft, dem die Menschen vierzig Wochenstunden widmeten. Je nach Jahreszeit und Jagderfolg reichte das erlegte Wild oft für einen längeren Zeitraum.

Die Neolithische Revolution

Die „neolithische Revolution“ markiert einen massiven Umbruch in der Menschheitsgeschichte. Erstmals fingen Menschen an, sesshaft zu leben. Sie legten Vorräte an und begannen, Pflanzen und Tiere zu züchten. Die neolithische Revolution wird auf die Jungsteinzeit (Neolithikum) datiert, sie begann vor 14.000 bis 20.000 Jahren.

Tatsächlich zog sich die Spaltung von Mensch und Natur, von Wildnis und Agrarlandschaft, bis ins Mittelalter. Es war also mehr eine Evolution als eine Revolution. Menschen errichteten feste Siedlungen. Palisaden und Stadtmauern trennten die Lebenswelt der „zivilisierten“ Menschen von der Wildnis und den „wilden“ Menschen. Beseelt von christlichem Sendungsbewusstsein zogen Benediktiner und Zisterzienser aus, um das Land „urbar“ zu machen. Sie bauten Klöster in der Wildnis und Kirchen in Dörfern. Im Motto „Ora et labora“ schwang auch das Bestreben mit, die Bewohnerinnen und Bewohner zu zähmen und zu kontrollieren.

Nicht überall ließen sich „wilde Menschen“ vom Prozess der Kultivierung und Zivilisierung einfangen. So lehnte das in Afrika beheimatete Volk der Hadza die neolithische Revolution laut Woodburn scheinbar mit der Begründung ab, sie möchten lieber ihre Freizeit behalten. Ihren Arbeitsaufwand für die Versorgung Nahrungsmitteln beschreibt Anthropologe James Woodburn sehr grob wie folgt: Über das ganze Jahr wird für die Essensbeschaffung durchschnittlich vermutlich weniger als zwei Stunden pro Tag verwendet9.

In der Wildnispädagogik geht es keinesfalls darum, diese frühe Lebensweise zu verklären oder gar zu ihr zurückkehren zu wollen. Es geht vielmehr darum, die geschichtliche Entwicklung zu verstehen und aus ihr zu lernen.

Zivilisation oder die Erfindung der Arbeit

„Arbeit ist eine Erfindung des zivilisierten Geistes“, schreibt der zeitgenössische Autor Tamarack Song11. Für ihn markiert das Aufkommen der Landwirtschaft den Beginn der Arbeit. Menschen konnten nicht mehr einfach Nahrung sammeln, sie mussten arbeiten und Überschüsse produzieren. Die darauf folgende Verstädterung isolierte Menschen vom Zweck ihrer Existenz. Die Zeit wurde fragmentiert. Das Leben war kein Spiel mehr – die Ethik der Arbeit löste die Ethik des Spielens ab.

Ein Glaubenssystem entwickelte sich, um die Arbeitsmoral zu fördern. Es enthielt neben Glaubenssätzen auch Sanktionen, um diese Arbeitsmoral aufrechtzuerhalten. Arbeit bestimmt seither das Leben der „zivilisierten Menschen“. Spiel und kulturelle Aktivitäten sind nur noch eine optionale Freizeitbeschäftigung.

Indigene Menschen dagegen lebten ihre Kultur: „For those who live the Old Way, life is a party” und “Life is now”. Alles, was sie taten, vom Beerenpflücken über das Holzsammeln, war ein gemeinsames Ritual, gefüllt mit Sinn, Selbstzufriedenheit und Spaß.

Das Gleichgewicht in indigenen Gesellschaften beruhe nicht auf religiösen und politischen Gesetzen, schreibt Tamarack Song, sondern auf dem Respekt vor dem Kreislauf des Lebens, den Gesetzen der Natur. Deshalb sage kaum jemand dem anderen, was er oder sie zu tun hat – die Regeln seien vielmehr intrinsisch.

Wildnispädagogik oder zurück zu den Wurzeln

Basierend auf indigenen Traditionen hilft die Wildnispädagogik modernen Menschen, wieder mehr im Einklang mit der Natur zu leben und ihr ureigenes Potenzial zu entfalten. Das Konzept der Wildnispädagogik hat sich in den 1960er Jahren in Nordamerika entwickelt und kam um die Jahrtausendwende nach Deutschland. Maßgeblich beeinflusst haben die heutige Wildnispädagogik vor allem Stalking Wolf, Tom Brown Jr. und Jon Young

Stalking Wolf

Als Großvater der Wildnispädagogik gilt Stalking Wolf, ein Lipan Apache. Er kam in den 1870er Jahren im Norden Mexikos zur Welt. Außerhalb von Reservaten wuchs er frei auf in der traditionellen Lebensweise seines Volkes. Stalking Wolf wurde Schamane und Scout.

Mit 20 Jahren rief ihn eine Vision weg von seinem Stamm. Daraufhin durchstreifte er 63 Jahre lang den amerikanischen Kontinent, suchte sich immer neue Lehrer und sammelte das Wissen von Naturvölkern. Er verbrachte sein Leben fernab der „modernen Gesellschaft“, ohne Job, Auto oder Rentenversicherung.

Mit 83 Jahren begegnete er seinem Schüler Tom Brown Jr.. Der 1950 geborene Tom war damals ein kleiner Junge und sammelte gerade Versteinerungen in einem Bachbett.

Ich lehre meine Schüler stets, was die Kinder der Erde glauben: daß nämlich alle Dinge eine Seele haben und darum lebendig sind. Wir machen keinen Unterschied zwischen Pflanze und Tier, zwischen Fels, Wasser, Luft und fruchtbarer Erde.
Tom Brown Jr. „Grossvater – ein Leben für die Wildnis“ Seite 123

Tom Brown Jr.

In den folgenden Jahren gab Stalking Wolf sein gesamtes Wissen in Form des Coyote Mentorings an Tom weiter. Brown gilt heute als einer der erfahrensten Spurensucher und Survival-Experten weltweit. Er verfasste die Überlieferungen zu Stalking Wolf und veröffentlichte bislang 18 Bücher. Über seine Zeit mit Stalking Wolf schreibt er: „Nie lehrte er uns etwas, das wir nicht wissen wollten. (…) Ja, Großvater war ein Coyote Lehrer. Ein Coyote Lehrer verschmäht es, vor dem Schüler alles auszubreiten und ihm jede Antwort zu geben. Vielmehr plant der Coyote Lehrer eine Lektion in der Weise, dass der Schüler nachdenken, Fehler machen und dann die Antwort selbst finden muss. Es ist keine einfache, aber eine höchst wirksame Lehrmethode. Hat der Schüler sich eine Fertigkeit oder Technik auf diese Weise angeeignet, dann beherrscht er sie in jeder Situation, die eintreten mag.10

Tom Brown unterrichtete nach Stalking Wolfs Tod einen eigenen Schüler: den 1960 geborenen Jon Young. Außerdem gründete Tom seine „Tracker School“ in den USA, um das Coyote-Teaching vielen Menschen zugänglich zu machen.

Jon Young

Jon war 10 Jahre alt, als Tom Brown Jr. begann, ihn in der Kunst des Coyote Mentoring zu unterrichten. Nach und nach gab Tom so sein von Stalking Wolf erlerntes Wissen an den jungen Jon weiter. Laut Jon waren diese sieben oder acht Jahre „ein großes Abenteuer“. Jons Wissensdurst war groß, er wollte mehr über diese indirekte Form des Lehrens erfahren.

Er studierte Anthropologie sowie Ökologie mit dem Ziel, die unsichtbare Schule der indigenen Völker zu ergründen. Wie gelang es Kindern alles beizubringen, was sie für ihr späteres Leben brauchen, ohne sie – nach westlichem Verständnis – zu unterrichten? Er besuchte verschiedene Völker und stieß immer wieder auf dieselben Elemente, die das Lernen und die Entwicklung der Kinder bedingten.

Aus diesem Wissen heraus entwickelte Jon das moderne Coyote Teaching. Um es zu verbreiten, gründete Jon seine eigene Wildnisschule, die Wilderness Awareness School. Eine wichtige Rolle bei Jons Forschungen und dem Entstehen der Schule spielte Norman Powell aus Kenia, besser bekannt als „Ingwe“.

Wie die Wildnispädagogik nach Deutschland kam

Von Nordamerika aus gelangte die Wildnispädagogik auch nach Europa. In Deutschland konzipierte Gero Wever 2001 mit einem Team von Sportwissenschaftlern, Heil- und Sozialpädagogen und ErzieherInnen den Lehrgang Wildnispädagogik, der 2003 erstmals durchgeführt wurde. Absolventen der „Tracker-School“ von Tom Brown Jr. etablierten 2002 das Wildnisschulen Netzwerk Deutschland (W.I.N.D.). Heute sind rund 20 Wildnisschulen in diesem Netzwerk organisiert. Darüber hinaus gibt es eine wachsende Zahl weiterer Wildnisschulen in Deutschland.
Auch wenn jede Wildnisschule eigene Schwerpunkte setzt, basieren die Inhalte auf den vier Säulen:

  • Verbindung zur Natur
  • Verbindung zu sich selbst
  • Verbindung zu anderen Menschen
  • Weitergabe von Wissen / Coyote Teaching

Inhalte der Wildnispädagogik

Als „moderne“ Menschen genießen wir vom Auto bis hin zur Zentralheizung viele Annehmlichkeiten, sind jedoch nicht unbedingt glücklich: Stress, Schnelllebigkeit, Einsamkeit oder Erkrankungen machen uns zu schaffen. Dazu kommt die Angst vor der zunehmenden Zerstörung unserer Umwelt. Die Wildnispädagogik setzt auf indigenes Wissen und alte Wege des Lehrens, um Menschen wieder in ihre Kraft zu bringen. Gemäß der vier Säulen der Wildnispädagogik  geht es inhaltlich darum, eine Verbindung auf drei Ebenen zu knüpfen und zu vertiefen:

Verbindung

  • zu sich selbst
  • zur Natur
  • zu anderen Menschen

und nicht zuletzt: diese Begeisterung und dieses Wissen mit anderen zu teilen

Eine Grafik, die die acht Kernelemente der Wildnispädagogik darstellt.

Mit allen Sinnen lernen: Inhalte im Überblick

Das in der Wildnispädagogik vermittelte Wissen und seine Weitergabe basieren auf Traditionen indigener Völker. Die Kinder in Jäger-Sammler-Völkern bewältigen ein immenses Lernpensum – und das ohne Frontalunterricht oder Bücher. Vielmehr lernen sie instinktiv, indem sie nachahmen, spielen und entdecken. Dafür bekommen sie viel Zeit, denn ihre Eltern wissen, dass Spielen schlau macht und Kinder Experten darin sind, sich selbst zu erziehen. Ihre Eltern kennen das Wesen der Natur und vertrauen darauf, dass jedes Kind seine in ihm angelegten Talente und Gaben zur Entfaltung bringen kann.

Die Wildnispädagogik gibt dieses Wissen auf ähnliche Art und Weise weiter – mithilfe des Coyote-Mentoring – jedoch in zeitlich komprimierter Form. Daher ist die Ausbildung in Wildnispädagogik intensiv und fordernd für alle Sinne. Das ganzheitliche Konzept und die teilweise mehrjährige Ausbildung beinhaltet eine Vielzahl an Facetten, von der Selbsterfahrung über die intensive Verbindung mit der Natur bis hin zur Weitergabe des Erlernten an andere, Stichwort “Vorbildfunktion”.

Naturverbindung

„To Know Nature is To Become Nature” heißt ein Kapitel in Tamarack Songs Buch „Becoming Nature13”. Die Verbindung mit der Natur ist das große Ziel der Wildnispädagogik. Nur noch wenige Menschen in Deutschland, Österreich oder der Schweiz leben heute im Rhythmus der Jahreszeiten. Dazu gehören Jäger, Hirten, Sammler und Bauern (m/w/d) – und Wildnispädagog:innen. Die spannende Frage während eines Wildnispädagogik-Kurses ist oft: Wie messe ich meinen Grad an Naturverbindung und an Resilienz? Dabei helfen Fragen wie zum Beispiel:

  • Bin ich nur gerne draußen, solange die Sonne scheint?
  • Wie verhalte ich mich, wenn Regen aufzieht oder ein Gewitter?
  • Stören mich Fliegen, habe ich Angst vor Zecken oder Spinnen?
  • Wie anpassungsfähig und lösungsorientiert reagiere ich auf spontane Änderungen?
  • Kann ich vertrauensvoll ruhig und gelassen bleiben, wenn unverhofft ein
  • Sturm aufzieht oder mir eine saftige Rechnung in den Briefkasten flattert?
Nachhaltiges Handeln

Wildnispädagogik-Kurse holen alle da ab, wo sie gerade stehen – und motivieren zu längeren Aufenthalten in der Natur. Die Kernroutine Sitzplatz gilt dabei als Zauberformel für mehr Naturverbindung. Wer regelmäßig einen Platz in der Natur aufsucht, lernt ökologische Zusammenhänge kennen. Neben dem direkten Studieren des „Buchs der Natur“ greifen viele zu Hause nach Bestimmungsbüchern, denn das Erleben weckt die Neugier. Vor allem aber bringt es Menschen vom Denken ins Fühlen: Indem wir die Natur unmittelbar mit Körper und Geist wahrnehmen, erfahren wir uns als Teil von ihr. Dieses Erleben von Verbundenheit führt zu nachhaltigem Handeln: Was ich liebe, will ich schützen.

Kreislauf von Leben und Tod

Die Natur ist ein Kreislauf von Wachsen und Vergehen, in dem jedes Lebewesen nimmt, was es zum Leben braucht – nicht mehr und nicht weniger. Angesichts des Werdens und Vergehens in natürlichen Prozessen gewinnen existenzielle Fragen und elementare Werte an Wichtigkeit gegenüber Dingen. Wenn sich Menschen wieder selbst als Teil dieses Kreislaufes erfahren, treffen sie Entscheidungen auf einer neuen Basis. Sie konsumieren zum Beispiel bewusster und hinterfragen alte Gewohnheiten.

Ökologische Zusammenhänge

Ein Ökosystem ist ein Lebensraum, den verschiedene Lebewesen teilen. In der Wildnispädagogik geht es nicht in erster Linie um ein kognitives Verständnis dieser oft komplexen Zusammenhänge, sondern um eine Sensibilisierung für die Funktion ökologischer Kreisläufe. Deshalb ist es so wichtig, rauszugehen und in der Natur heimisch zu werden. Auf verschiedenen Ebenen fördern Erfahrungen in der Natur den gesunden Menschenverstand. Der wiederum hilft, sich gelassener und stressfreier durch die Stürme des Lebens zu bewegen. Mit der Zeit fühlen sich auch „Stadtmenschen“ immer wohler in der Natur. Es macht ihnen zum Beispiel nichts mehr aus, auf dem Boden zu sitzen oder Zweige im Haar zu haben, denn sie wissen, dass ihnen beides nicht schadet. Gleichzeitig lernen sie, sich vor wirklichen Gefahren in Acht zu nehmen.

Gemeinschaft

Wildnispädagogik ist ein pädagogisches Konzept für mehr Naturverbindung, Gemeinschaft und Überlebensfähigkeit in der Natur. Im Kurs bilden Lernende und Mentoren einen Clan: Sie erleben sich als Teil eines großen Ganzen. Alle stehen in Beziehung zueinander, jede:r spielt eine wichtige Rolle für das Gelingen und den Zusammenhalt der Gemeinschaft. Vorbild dafür ist das Zusammenleben in der Natur wie auch das Leben der Jäger und Sammler vor der neolithischen Revolution.
Wichtige Aspekte für das Gelingen der Gemeinschaft sind außerdem:

Art of Truthspeaking

Truth speaking oder „von Herzen sprechen“ basiert auf einer jahrtausendealten Praxis in Redekreisen und wurde vor allem bekannt durch den zeitgenössischen indigenen Autor Tamarack Song . Kurz gesagt geht es um eine authentische Kommunikation im Hier und Jetzt, in der jede:r seine eigene Wahrheit ausdrückt und anderen Menschen wertschätzend und respektvoll begegnet.

Es besteht ein himmelweiter Unterschied zwischen “Ich spreche, ihr hört zu” und “Lasst uns unsere Wahrheiten teilen”.
Tamarack Song

Redestabrunde

Traditioneller Ort des Truthspeaking ist die Redestabrunde. In seiner ursprünglichen Form ist dieser „Circle Way“ ein Ort der Begegnung, an dem Menschen miteinander teilen, was sie gerade bewegt. Dabei sitzen alle im Kreis und ein Redestab oder ein anderes Redeobjekt wird herumgereicht. Nur wer den Redestab hält, hat das Recht zu sprechen. Alle anderen hören mit offenem Herzen zu.

Clanarbeit

Der Clan als Gemeinschaft spielt eine wichtige Rolle in der Wildnispädagogik. Ob in der Wildnispädagogik-Ausbildung oder wenn Wildnispädagogen mit Schüler:innen arbeiten: Die Gruppe bildet einen Clan, der sich selbst einen Namen gibt (zum Beispiel “Clan der Adler”), was die Identifikation mit der Gruppe noch verstärkt.

Umfasst dieser Clan mehr als 15 Personen, unterteilen die Mentoren ihn meist in vier Gruppen, angelehnt an die vier Elemente oder Himmelsrichtungen. Jede Gruppe erhält eigene Missionen, ist jedoch Teil des Clans. Erfahrungsgemäß fällt es einer Kleingruppe leichter zu reflektieren und Probleme offen anzusprechen als im großen Kreis. Diese Dynamik aus Intensität und Intimität macht sich die Wildnispädagogik zunutze, indem sie die Gruppen für bestimmte Lerninhalte weiter unterteilt in Zweierteams. So üben “Kanupartner” konkrete Fertigkeiten wie zum Beispiel das Feuerbohren zu zweit. Der Ansatz der Clanarbeit: Alle Teilnehmenden erlernen dieselben Fähigkeiten und jede:r trägt einen Teil zum Gelingen der Gemeinschaft bei.

Persönlichkeitsentwicklung

Wer sich für die Ausbildung in Wildnispädagogik entscheidet, tut dies aus einer bewussten oder unbewussten Motivation heraus. Zu Beginn des Kurses setzen sich die Teilnehmenden Ziele, die sie persönlich im Laufe ihrer Ausbildung erreichen wollen. Im Kurs graben sie ihre Kindheitsträume aus, ergründen ihre Leidenschaften, ihre Werte und ihr Potenzial. Mit jedem Modul gewinnen sie Klarheit über ihre Motivation und ihr Warum. Denn die Verbindung mit der Natur ist immer auch eine Reise zu sich selbst. Tatsächlich ist Wildnispädagogik mehr als eine Art zu Lehren und zu Lernen. Für viele ist sie eine Lebensweise, die auf Respekt, Flexibilität, Spontanität, Vertrauen, Mitgefühl und Selbstwirksamkeit beruht.

Die Situation äußerer Einsamkeit kann ein Testfall dafür sein, wie ärmlich oder reich ein Mensch innerlich ausgestattet ist. Wer sie sucht, setzt sich aus. Er setzt sich vor allem sich selbst aus. Er stellt sich vor die Bewährungsprobe, werterfüllt bei sich sein zu können, Sinn zu erfahren, über innere Stabilität zu verfügen.
Siegfried Warwitz15

Neben den Kernroutinen spielen die folgenden Aspekte eine wichtige Rolle bei der Persönlichkeitsentwicklung:

Aufmerksamkeits- und Bewusstseinstraining

Hier geht es darum, das eigene Verhalten und die eigenen Gedanken zu beobachten: Schaue ich am Morgen als erstes aufs Smartphone oder verweile ich erst bei mir? Gehe ich eher reaktiv oder proaktiv durch meinen Alltag?

Verantwortungsbewusstsein

Sehe ich mich als Opfer der Umstände oder als Gestalter:in meines Lebens? Wenn ich proaktiv lebe, übernehme ich Verantwortung für mein Handeln.

Inner Tracking

Wie einer Fährte im Wald können wir auch unseren eigenen Spuren im Innern folgen: Wer bin ich wirklich – und wer habe ich bislang womöglich geglaubt zu sein? Inner Tracking ist ein Weg der Transformation, auf dem die Mentees sich selbst näher kennenlernen.

Inner Child

Was waren meine Kindheitsträume – und findet sich davon etwas in meinem heutigen Erwachsenenleben wieder? Die Verbindung mit dem inneren Kind und eine spielerische Herangehensweise können vergrabene Wünsche an die Oberfläche befördern und zeigen, was wirklich in einem steckt.

Bildung von Ethik und Prinzipien

Das bewusste Festhalten und Priorisieren der eigenen Werte und Prinzipien bringt Klarheit im Innern und Äußeren. Wer nach seinen Prinzipien lebt, ist authentisch und kann anderen ein glaubwürdiges Vorbild sein.

Auseinandersetzung mit dem eigenen Lebensweg

Am glücklichsten sind wir, wenn sich unser Lebensweg mit unseren Interessen und Überzeugungen deckt. Wer ein starkes Warum im Leben hat, der findet auch ein Wie und ein Was. Die vielschichtige Ausbildung in Wildnispädagogik fördert eine intensive Auseinandersetzung mit dem eigenen Lebenssinn. Oftmals stellen Teilnehmende fest, dass sie bislang nicht ihren eigenen Träumen gefolgt sind, sondern den Vorstellungen anderer.

Verankerung und Empowering

Wer fest mit sich selbst und mit der Erde verankert ist, kann anderen Halt geben und sie begeistern. Bei der Ausbildung in Wildnispädagogik geht es daher zunächst darum, feste Wurzeln und einen guten Stand auszubilden. Sprich, innerlichen Frieden zu finden und für sich selbst sorgen zu können. Im nächsten Schritt oder im zweiten Teil der Ausbildung geht der Blick nach außen: Wie kann ich die Gemeinschaft stärken und in meiner Umwelt etwas Gutes bewegen?

Traumdeutung

Träume sind Reflektionen unseres Lebens. Daher regen Wildnispädagog:innen die Mentees im Kurs an, auf ihre Träume zu achten. Gibt es wiederkehrende Botschaften oder Muster? Was sagen die eigenen Träume aus?

Erdphilosophie

Die Erdphilosophie thematisiert die Verbindung zum inneren Selbst, zur Erde und zur Natur. Es geht um die Balance aus mentaler Kraft und physischer Welt. Und darum, die eigene mentale Kraft zu trainieren wie einen Muskel. Mehr dazu auch unter Visionssuche (Ankerlink).

Innerer Medizinort

Auf dem Weg zu innerer Stärke spielt die spirituelle Ebene eine Rolle im Konzept der Wildnispädagogik. Im Zusammenhang mit der Erdphilosophie nutzt die Wildnispädagogik beispielsweise Meditationstechniken, die helfen sich tief in sich selbst zurückzuziehen. Und das nicht daheim auf dem Meditationskissen, sondern auch draußen bei Wind und Wetter. Das Ziel: Als Mensch geerdet und handlungsfähig bleiben – selbst wenn es stürmt, dunkel und kalt ist.

Widerstandsfähigkeit

Auch mit kalten Füßen einen kühlen Kopf bewahren: Außerhalb der Komfortzone lauern Hunger, Durst, Einsamkeit oder Schmerz. Die Wildnispädagogik fördert die Auseinandersetzung damit und stärkt die psychische Resilienz.

Song of Mosquito

Der „Song of Mosquito” trainiert die eigene Widerstandsfähigkeit. Bekanntlich ist in der Wildnispädagogik die Natur die Lehrerin – in diesem Fall in Gestalt von Moskitos oder Stechmücken. Die Mentees probieren aus, wie unterschiedlich Insekten auf sie reagieren, je nachdem ob sie sich zum Beispiel im roten T-Shirt an ein Gewässer setzen oder sich getarnt anpirschen. Aus der indigenen Jagd vermittelt die Wildnispädagogik Techniken, die vor Insektenstichen schützen.

Survival

Die Wildnispädagogik führt aus der erlernten Hilflosigkeit der technisierten Welt heraus – in dem sie lehrt, die vier Grundbedürfnisse zu decken: Schutz, Wärme, Wasser und Nahrung. Wer dies beherrscht, kann in Notsituationen Ruhe bewahren, sich versorgen und in Sicherheit bringen. Mit Kompass und Messer oder – für Fortgeschrittene – ganz ohne mitgebrachte Hilfsmittel lernen die Teilnehmenden, sich in der Natur zurechtzufinden. Zu diesem Zweck vermittelt die Wildnispädagogik handwerkliche Fertigkeiten (siehe auch nächster Abschnitt) und eine Reihe an Bushcraft- sowie Survivaltechniken, darunter:

Orientierung im fremden Gelände

Bienen tanzen den Weg zu neu entdeckten Blütenpollen vor, Lachse finden mithilfe ihres Geruchssinns an ihren Geburtsort zurück, Zugvögel nutzen das Magnetfeld der Erde zur Orientierung. Und Menschen? Die behelfen sich in der Regel mit technischen Hilfsmitteln, um ihre verkümmerten Sinne zu ersetzen. Die Wildnispädagogik lehrt, sich auch ohne GPS oder Kompass zurechtzufinden: am Stand der Sonne und Sterne, mithilfe von Bäumen oder sogar Pfützen.

Wasser finden und aufbereiten

Das Thema Wasser ist ebenso wichtig wie umfassend. An dieser Stelle daher in aller Kürze: Für das Finden, Aufbereiten und Transportieren von Wasser vermittelt die Wildnispädagogik viele nützliche Fertigkeiten.

Körperliche und mentale Stärke

Wer abseits der Zivilisation in eine Notsituation gerät, will vor allem eines: Schnell in Sicherheit. Hektik oder gar Panik sind dabei schlechte Begleiter. Stattdessen gilt es, Ruhe zu bewahren und intuitiv zu handeln. Mit Meditation, Krafttraining (mit dem eigenen Körpergewicht) und Ausdauersport trainiert die Wildnispädagogik die geistige und körperliche Stärke. Das Ziel: In der Not fit zu sein und besonnen sowie zielgerichtet zu handeln.

Erste Hilfe

Im Kontext von Survival und Bushcraft vermittelt die Wildnispädagogik essenzielle Grundlagen der Outdoor-Erste-Hilfe, wie Sofortmaßnahmen zum Aufrechterhalten der Vitalfunktionen und das Einmaleins der Wundversorgung.

Feuer und Wärme

Um die eigene Körperwärme auch im Winter aufrechtzuerhalten und um Wasser oder Essen zu kochen, ist eines in der Wildnis unabdingbar: Feuer. Die Teilnehmenden erlernen das Finden von Zunder und Feuerholz sowie verschiedene Methoden des Feuermachens und Kochens. Auch das sichere Löschen des Feuers und das Verwischen der eigenen Spuren zählen zum Kursinhalt.

Schutz

Wichtige Aspekte sind:

  • Erkennen von Gefahren
  • Finden eines geeigneten Lagerplatzes
  • Bauen eines Unterschlupfs mit Naturmaterialien wie Ästen und Laub (Debris Hut)
Scouts, die friedvollen Krieger:innen der Wildnis

Scouts waren oftmals die Kundschafter, Beschützer und Wächter ihres Stammes. Der Archetyp des Scouts wird je nach Kontext auch als Guardian, Krieger, Wächter, Bodhisattva oder Erdhüter bezeichnet. Die Ausbildung in Wildnispädagogik vermittelt psychische, mentale und körperliche Fähigkeiten für das Leben in der Wildnis und den Umgang mit den eigenen Ängsten. Alternativ bieten einige Wildnisschulen spezielle Scout-Trainings an. Mehr über den „Weg des Scouts” findet sich auch im Kapitel „Verwandte Strömungen der Wildnispädagogik”.

Jagdfertigkeiten

Als ältestes Handwerk der Menschheit ist die Jagd Teil einer umfassenden Survival-Ausbildung. Die Wildnispädagogik vermittelt nicht das Jagen selbst, sondern in der traditionellen Jagd verwendete Kenntnisse wie:

  • Das Schulen von Aufmerksamkeit und Wahrnehmung mithilfe von Coyote-Techniken wie Rehohren, Eulenblick, Fuchsgang
  • Pirschen, Schleichen
  • Körperliche und geistige Tarnung
  • Die Kunst des Fährtenlesens

Ausgewählte Wildnisschulen bieten darüber hinaus separate Ausbildungsprogramme wie „Heilige Jagd“ oder „Respektvolle Jagd“ für angehende Jäger und Jägerinnen. Ein Beispiel ist die Jagdausbildung der Wildnisschule Lupus.

Naturwissen

Die Wildnispädagogik vermittelt indigenes Naturwissen für die heutige Zeit – dabei beschränkt sie sich nicht auf die Tier- und Pflanzenwelt, sondern umfasst quasi alle Aspekte des menschlichen Lebens, sei es Gesundheit und Erste Hilfe, Gemeinschaft, Ernährung, Orientierung und vieles mehr.

Finden und Bestimmen von essbaren Wild- und Heilpflanzen zu jeder Jahreszeit

Wer Nahrung und Heilpflanzen in der Natur finden kann, weiß sich jederzeit und vor allem im Notfall selbst zu helfen. Das weckt ein großartiges Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit. Dieses Wissen weiterzugeben ist ein starker Antrieb in der Wildnispädagogik.

Lesen des Bodens und des Untergrundes

Die Wildnispädagogik vermittelt grundlegende Techniken des Fährtenlesens und der Naturbeobachtung. Dabei reicht das Spektrum vom Identifizieren von Tierspuren über das Beurteilen eines sicheren Lagerplatzes bis zum Finden von Wasser (und darüber hinaus).

Erkennen und Vorhersagen des Wetter

Das Wetter zu „lesen“ zählt von Natur aus zu den Voraussetzungen, um sich draußen heimisch zu fühlen – und nicht von Gefahren überrascht zu werden. Tom Brown Jr. beschreibt das Zusammenspiel zwischen Lebewesen und Wetter an verschiedenen Stellen in seinem Buch „Der Fährtensucher“: „Mit jeder Stunde verdichteten sich die Wolken, wurden bauschiger und dunkler, und mit jeder Veränderung am Himmel wechselten auch die Farben in den Bäumen. Alle Tiere schienen unterwegs zu sein und es besonders eilig zu haben – wie Käufer, die schnell noch alles besorgen wollen, bevor das Unwetter losbricht. Der Wind frischte auf und hob die langen Kiefernnadeln.14

Biologie

Wildnispädagogik beinhaltet auch einen intensiven Kurs in Biologie und vermittelt Wissen aus den Bereichen Geologie, Petrologie (Steinkunde), Pflanzenkunde und Zoologie.

Vogelsprache (Birdlanguage)

Vögel kommunizieren nicht nur untereinander, sie warnen sich und andere Lebewesen vor herannahenden Gefahren. Viele Vogelarten nutzen dabei ganz unterschiedliche Rufe, zum Beispiel für Feinde aus der Luft oder für Feinde vom Boden. Es ist faszinierend und überaus informativ, die Sprache der Vögel zu erlernen.

Naturhandwerk

Zum Leben und Überleben in der Wildnis braucht es vielerlei handwerkliche Fähigkeiten. Wie im vorherigen Punkt erwähnt, kombiniert die Wildnispädagogik im Sinne der indigenen Tradition Wissen aus Survival und Naturhandwerk. Die Mentees erlernen – je nach Schwerpunkt und Dauer der Ausbildung – zum Beispiel:

  • Feuer machen mit Funkenschläger, Feuersteinen, Feuerbohrer (Bow-Drill), Hand-Drill
  • Wasser reinigen durch abkochen oder Wasserfilter
  • Nahrung zubereiten (Gargrube, Heißdörren, Glutgrillen etc.)
  • Schnüre herstellen
  • Körbe flechten
  • Werkzeuge bauen (Flintknapping, Bogenbau)
  • Gerben, Kleidung herstellen
  • Kochgeschirr und Transportmittel herstellen
  • Camps und Schutzhütten bauen

Baut aus euren Vorstellungen eine Laube in der Wildnis, ehe ihr in den Mauern der Stadt ein Haus errichtet.
Khalil Gibran

Rituale und Zeremonien

Entlang des Jahreskreises vertiefen die Wildnispädagogik-Mentees ihre Verbindung zur Natur mithilfe von Zeremonien und Ritualen. Rituale können alleine oder gemeinsam durchgeführt werden, Zeremonien finden vor allem in der Gruppe statt. Beispiele sind der Dankeskreis, der Ahnenteller / das Ahnenritual, die Visionssuche oder das Schwitzhüttenritual.

Visionssuche / Vision Quest

Was wir aus Geschichten nordamerikanischer Ureinwohner kennen, wird auch im deutschsprachigen Raum seit rund 40 Jahren angeboten: Vision Quests für Jugendliche und Erwachsene. Jede:r für sich verbringt bei der Visionssuche einige Tage und Nächte in der freien Natur. Die Idee dahinter ist, fastend, eigenverantwortlich und ungeschützt Antworten zu finden für das eigene Dasein: „Wer bin ich?“ „Wo ist mein Platz?“ etc. Eine Übersicht von Anbietern in der DACH-Region bietet u.a. die Website visionssuche.net. In der ganzheitlichen Ausbildung der Wildnispädagogik ist die Visionssuche einer von vielen Bestandteilen.

Schwitzhütte

Das gemeinsame Schwitzen in einer Schwitzhütte ist ein uraltes Ritual und in vielen Kulturen verankert. Neben der Körperreinigung dient es auch rituellen und sozialen Zwecken.

Medizinrad

Das Bild des Medizinrades ist in vielen Naturvölkern verankert. Als eine Art Astrologie der Erde basiert es auf der Vorstellung vom menschlichen Leben als Kreislauf von Geburt, Tod und Wiedergeburt. Das Medizinrad spiegelt den ständigen Wandel und die Tatsache, dass alles mit allem verbunden ist. Und dass alle Lebensformen beseelt sind – Menschen, Tiere, Pflanzen, Mineralien. Seine Botschaft: Menschen sollen nicht in einer Position (auf dem Rad) verharren, sondern weiterreisen, ihre Energien fließen und wachsen lassen16. Im Sinne indigener Traditionen sind dabei alle Lebensphasen gleichberechtigt, so wie jede Jahreszeit und Tageszeit denselben Stellenwert hat und für eine ganzheitliche (Persönlichkeits-) Entwicklung wichtig ist.

Der Jahreskreis

Die Ausbildung zum Wildnispädagogen oder zur Wildnispädagogin orientiert sich am Lauf der Jahreszeiten. Sie beginnt in der Regel im Frühjahr – wenn auch die Natur erwacht – und findet ihren Abschluss im Winter, wenn die erlernten Fertigkeiten auf die Probe gestellt werden. Typische Inhalte der Ausbildung nach Jahreszeit:

  • Frühling: Kennenlernen essbarer Kräuter und Pflanzen, Basis-Survival-Wissen wie Schleichgang, Feuermachen, Aufmerksamkeitsübungen
  • Sommer: Die eigene Wahrnehmung schulen, Feuerbohren, Werkzeuge aus Naturmaterial, Kochen ohne Töpfe, die Himmelsrichtungen
  • Herbst: Tierspuren erkennen und verfolgen
  • Winter: Bündeln des gesammelten Wildnis-Wissens, um trotz Winterkälte angenehme Tage im Freien zu verbringen. Abschlusszeremonie.
Kernroutinen der Naturverbindung

Sitzplatz, Fragenstellen oder Spurenlesen sind gewisse Gewohnheiten, die Menschen ausüben, um von der Natur zu lernen. Solche „Kernroutinen“ sind ein elementarer Bestandteil der Wildnispädagogik und eine sichere Methode, sich selbst Wissen anzueignen und die eigenen Sinne zu trainieren. Eine ausführliche Beschreibung der Kernroutinen findet sich hier.

Das moderne Leben ist furchtbar komplex, voller Fremdbestimmung, Richtlinien, halb gewollt und halb gezwungener Pflichten, unbeweglicher Strukturen und seltsamen gesellschaftlichen Idealen. Wenn man Kontakt zum Wesentlichen hatte, die natürlichen Ordnungen für sich entdeckt hat und man fähig war, seine Ängste beiseite zu schieben, wird einem bewusst, dass man nicht viel benötigt um zu leben.
Tobias Lehmann, Survival-Experte Wildnisschule Lupus

Mentoring (Coyote Teaching)

Wie kann ich die Menschen für die Natur und deren Abläufe begeistern? Dafür nutzt die Wildnispädagogik das Coyote Teaching und das 8 Shields Modell, eine indigenen Traditionen folgender Art des Mentorings. Mit Fragen und Übungen hilft es den Mentees dabei, das in ihnen wohnende Potenzial aufzuspüren und zu verwirklichen. Die Wildnispädadogogik stellt die Natur als Lehrerin in den Mittelpunkt – und vermeidet direkte Antworten. Dazu passt Tom Brown Juniors Beschreibung seines Mentor Stalking Wolf in „Der Fährtensucher“:

Er gab niemals selbst eine Antwort, aber er brachte uns auf die Fragen, die uns zu unseren eigenen Antworten führten. Er lehrte mich sehen und hören, gehen und still sein; er lehrte mich, geduldig und findig zu sein, zu erkennen und zu verstehen.
Tom Brown Jr. über seinen Mentor Stalking Wolf

Wildnispädagogische Arbeit mit Gruppen und Einzelpersonen

Eine Gruppe besteht immer aus Einzelpersonen, weshalb Mentor:innen sowohl ein feines Gespür für die Dynamik innerhalb der Gruppe als auch für die Bedürfnisse Einzelner brauchen. Meist bekommt die Gruppe einen Auftrag, gleichzeitig wird jede Teilnehmerin und jeder Teilnehmer ermutigt, sich einzubringen und die Arbeit für die eigene Entwicklung zu nutzen. Wie der schlaue Kojote geben Wildnispädagog:innen nicht einfach ihr Wissen preis, sondern animieren ihre Mentees, dieses selbst zu ergründen.

Verstehen des menschlichen Lernverhaltens

Für Wildnispädagogik-Mentor:innen ist es essentiell, ihre Mentees kennen und einschätzen zu lernen. Wer zum Beispiel weiß, ob er mit visuellen, kommunikativen, haptischen oder auditiven Lerntypen arbeitet, kann die Aufgaben entsprechend formulieren. Zentraler Bestandteil des Coyote Mentoring sind die drei Ebenen des Fragens12.

  1. Fragen der Ebene eins können die Mentees einfach beantworten, sie dienen dem Aufbau von Vertrauen.
  2. Fragen der Ebene zwei führen die Mentees an ihre Grenzen – die Schülerin (oder der Schüler) kann sie beantworten, wenn sie darüber nachdenkt. Einer wissbegierigen, selbstsicheren Mentee wird man solche Fragen früher oder häufiger stellen als einer unsicheren, die viel Bestätigung braucht.
  3. Fragen der Ebene drei liegen jenseits bisheriger Denkpfade der Mentees. Sie lehren Bescheidenheit – und lösen typischerweise den Impuls aus, sich tief in Bestimmungsbücher oder sonstige Quellen vergraben zu wollen. Ob sich eine Antwort findet oder nicht: Diese Art von Fragen schürt leidenschaftliche Neugier und erweitert den Blickwinkel.
Geschichtenerzählen als Methode der Wissensvermittlung

„Ach, wie gut, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß“ oder „Sesam, öffne dich“: Schlüsselsätze oder Reime können wir uns oft ein Leben lang merken. Dass sich Erzähltes besser einprägt als Faktenwissen, macht sich längst auch das moderne Marketing zunutze: Storytelling heißt das Zauberwort in Werbespots oder auf Social Media. Als Lehrmethode mit indigenen Ursprüngen nutzt die Wildpädagogik das Geschichtenerzählen als magische Schatztruhe voller Wissen. Im Redekreis werden traditionell Geschichten erzählt, um Lerninhalte, Fähigkeiten und Werte weiterzugeben. Dabei tauchen die Mentees in das Geschehen ein, identifizieren sich mit Charakteren und können deren Beispiel folgen.

Mehr zum Thema: Die Kernroutine „Geschichte des Tages“

Ausbildung in Wildnispädagogik

Wer sich tiefer mit der Natur verbinden, mehr über die eigene Persönlichkeit erfahren und Wildniswissen weitergeben möchte, fragt sich oft: Was beinhaltet die Ausbildung in Wildnispädagogik? Wo kann man sich in Wildnispädagogik fortbilden? Wie werden die Inhalte und Kernroutinen der Wildnispädagogik in der Praxis vermittelt? Wie werde ich selbst ein Coyote Mentor? Mehr als 100 Wildnisschulen in Deutschland sowie in Österreich und der Schweiz bieten Ausbildungen in Teilzeit an. Jede Wildnisschule setzt dabei eigene Schwerpunkte, vor allem in der fortgeschrittenen Ausbildung. Die Inhalte der einjährigen Ausbildung gleichen sich in der Regel.

Einjährige Ausbildung in Wildnispädagogik

Mit der Ausbildung in Wildnispädagogik beginnt eine spannende Reise. Das Ziel ist klar: Nach einem Jahr berufsbegleitender Fortbildung zertifizierte Wildnispädagogin bzw. zertifizierter Wildnispädagoge zu sein. Damit einher gehen wunderbare Werkzeuge, um Begeisterung für die Natur zu vermitteln – in Menschen jeden Alters, einzeln, im Team und in größeren Gruppen. Gleichzeitig entwickeln sich die Mentees selbst weiter. Wie selbstverständlich finden sie sich draußen in der Natur zurecht. Innerlich gewinnen sie an Stärke, schärfen ihre Sinne, werden freier und selbstsicherer.

Ausbildungsmodule im Jahreskreis

Die einjährige Ausbildung in Wildnispädagogik findet in den meisten Wildnisschulen in fünf bis sieben Modulen statt. Jedes Modul geht in der Regel über ein verlängertes Wochenende. Online können sich die Teilnehmenden zwischen den Modulen mit ihren Mentoren austauschen. Die Wildnisschule Lupus zum Beispiel bietet monatlich ein Online-Treffen an. Am Beispiel dieser Schule skizzieren wir hier die Inhalte der einjährigen Ausbildung:

Modul 1: Grundlagenwissen für das Leben in der Wildnis

Am ersten Wildniswochenende tauchen die Teilnehmenden behutsam ins Thema ein. Ihre Mentoren vermitteln ihnen Wissen über die Gefahren in der Natur, die Kernroutinen und das Waldhandwerk. Das Waldhandwerk umfasst praktische Fertigkeiten wie Feuer machen, Schnüre herstellen, Knotenkunde und Orientierung ohne Kompass.

Modul 2: Wildniswissen im Detail

In diesem Modul geht es um körperliche Fitness, das Bauen einer Schutzhütte, das Bestimmen von essbaren Wildpflanzen und Heilpflanzen, die Orientierung am Kreislauf der Natur und um vieles mehr. Nach und nach erweitern die Teilnehmenden ihre Komfortzone und lernen, für einen gewissen Zeitraum in der Natur heimisch zu werden.

Modul 3: Scout-Wissen oder die Wiederbelebung der Sinne

Scouts bewegen sich geschickt und möglichst lautlos im Fuchsgang. Das Pirschen ist genauso Bestandteil des dritten Workshop-Moduls wie Vogelkunde, Vogelsprache und die Kommunikation in und mit der Natur.

Modul 4: Leben in Gemeinschaft

Die Gruppe bricht auf zu einer Wildniswoche im Wald. Einzeln und gemeinsam erlernen die Teilnehmenden die tiefere Bedeutung von Naturmentoring und Coyote-Teaching. Dazu gehören die Kunst des Truthspeaking, Grundwissen über Bildung und Nachhaltige Entwicklung (BNE), über ökologische Systeme, über pflanzliche Notnahrung und das Aufbereiten von Trinkwasser sowie Outdoor-Erste-Hilfe.

Modul 5: Spuren und Fährten

Wie die Scouts lernen die Teilnehmenden, Fährten zu lesen und zu folgen. Sie erweitern ihre Survival-Skills, erlernen Tierordnungen, das Journaling und den Umgang mit Bestimmungsbüchern.

Modul 6: Das Wintercamp

Die angehenden Wildnispädagog:innen erproben ihre erlernten Fähigkeiten bei einem Camp im Winterwald. Ein Fokus liegt auf Teambuilding sowie Wildnis- und Survival-Fertigkeiten. Den Abschluss bilden Zeremonien wie Medicine Walk und Schwitzhütte.
In einem siebten Abschlussmodul geht es darum, das Erlernte eigenständig anzuwenden.

Zwischen den Modulen lernen die Mentees selbstständig zu Hause weiter. Dafür bekommen sie „Hausaufgaben“ und werden ermutigt, sich möglichst täglich in bestimmten Kernroutinen der Wildnispädagogik zu üben.

Eine Teilnehmerin in der Wildnispädagogik Scout Moduls hat sich mit Kohlestaub und Gras getarnt.

Zwei- und mehrjährige Ausbildung in Wildnispädagogik

Für alle, die „Feuer gefangen“ haben und noch tiefer in das Buch der Natur eintauchen möchten: Einige Wildnisschulen bieten weiterführende Ausbildungen in Wildnispädagogik an. In der zweijährigen Ausbildung in Wildnispädagogik geht es darum, das vorhandene Wissen zu vertiefen. Zum Beispiel mehr zu lernen über Survival Skills, Vogelsprache oder Spurenlesen. Dabei setzt jede Wildnisschule eigene Schwerpunkte.

Mögliche Ausbildungsinhalte der zweijährigen Wildnispädagogik-Fortbildung

  • Bogenbau
  • Erdphilosophie
  • Fährtenlesen für Fortgeschrittene
  • Gerben und Kleidung aus Naturmaterialien
  • Heil- und Pflanzenkunde für Fortgeschrittene
  • Heilige Jagd
  • Holistisches Survival Camp
  • Outdoor-Erste-Hilfe
  • Phänologische Kalender
  • Scout-Ausbildung
  • Träume
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Licht und Schatten: Der eigene Herzensweg

Innere Arbeit und Persönlichkeitsentwicklung werden in der Ausbildung für fortgeschrittene Wildnispädagog:innen ebenfalls vertieft. In der Gemeinschaft und mit Hilfsmitteln wie Truth Speaking, Redestab und Inner Tracking lernen sie, mehr in den Moment zu kommen und existenziellen Fragen auf den Grund zu gehen. Im Zusammenspiel mit erfahrenen Mentoren eröffnen sich dabei weite Erfahrungsräume. „Es geht darum, den eigenen Herzensweg zu finden. Wildnispädagogik hilft, die Selbstverantwortung zu stärken, eigene Gefühle nicht mehr zu projizieren, eigene Opferhaltungen zu durchschauen, bewusst Risiken einzugehen um das eigene Potenzial zu entfalten. Je tiefer du eintauchst ins Fragenstellen und Coyote Teaching, desto gefestigter wirst du in deiner Mentorenrolle“, erzählt der Wildnispädagogik-Mentor Ingmar Gröhn.

Erfahrungsberichte von Wildnispädagoginnen und -pädagogen

Eine Ausbildung in Wildnispädagogik ist eine lebensverändernde Erfahrung. Das zeigen die beispielhaften Zitate. Sie zeigen auch: Wir können noch so viel über Wildnispädagogik schreiben – wirklich vorstellbar wird sie in den Worten derjenigen, die sie gerade während ihrer Ausbildung unmittelbar erlebt haben.

Doch wer wird Wildnispädagoge oder Wildnispädagogin? Die Inhalte ziehen Menschen jeder Herkunft und jeden Alters an. Sie sind Fotografin oder Blogger, Erzieher oder IT-Profi, Bäcker oder Bauingenieurin. Ihre Beweggründe und Berichte eint ein roter Faden: Die intensive Verbindung zur Natur – und die Begeisterung, mit der sie diese und ihr weitverzweigtes Wissen an andere Menschen weitergeben.

Denn sie haben gelernt, die richtigen Fragen zu stellen. Fragen, die ihnen und anderen helfen, ihr Potenzial zu entfalten. Die Erfahrungsberichte versprechen Einblicke in die facettenreiche Welt der Wildnispädagogik. Bereit für eine wilde Entdeckungstour?

„Ich gehe die Dinge viel selbstbewusster an“
Simone

„Die Ausbildung erweitert den Blick. Die Welt wirkt viel größer“
Yvonne Lehnert

„Jedem Mensch, der sich selbst neu kennenlernen will, oder sich für den Bereich der Umweltbildung interessiert, dem lege ich diese spannende Lernreise der Wildnispädagogik ans Herz.“
Martin Reiting

Ich hatte viele Aha-Momente und einen Wissenszuwachs auf persönlicher und fachlicher Ebene“
Isabell Katzmarek

Ich habe viel gelernt – Geduld zu haben, mutig zu sein, meinen Gefühlen zu vertrauen. Am Ende bin ich mit einem Gefühl von Stärke und Bewusstsein auf die Heimreise gegangen.“
Detlef Böttner

Wildnispädagogik: Kernroutinen für mehr Naturverbindung

Die Kernroutinen der Naturverbindung sind ein wichtiger Wegweiser in die Wildnispädagogik. Dahinter verbergen sich keine festen Lektionen oder Checklisten. Die Kernroutinen sind vielmehr Gewohnheiten. Ihr Zweck:

  • die eigenen Sinne schärfen
  • mit der Natur verschmelzen und so von ihr lernen
  • im modernen Leben mit der Natur verbunden bleiben
  • eine wilde Grundhaltung, basierend auf Resilienz, Mitgefühl, Dankbarkeit
  • und Respekt vor jeder Existenzform

Ein von Kernroutinen geprägter Alltag ist die Antwort auf das zunehmend grassierende Natur-Defizit-Syndrom. Daher empfehlen Wildnispädagog:innen, Kernroutinen in das eigene Leben zu integrieren. So wie das Zähne putzen oder den Nachmittagskaffee.

Im Folgenden gibt es 13 Kernroutinen für Naturverbindung zu entdecken. Diese finden sich auch im Coyote Guide – dem Standardwerk der Wildnispädagogik. Darüber hinaus sind Naturmentor:innen frei, sich neue Kernroutinen auszudenken, kreativ mit den hier vorgestellten Kernroutinen zu spielen.

Ein Teilnehmer der Wildnispädagogik Weiterbildung sitzt auf seinem Sitzplatz im Wald.

Sitzplatz

Wenn es ein magisches Wundermittel gibt, dann den Sitzplatz. Er ist der sichtbare Stellvertreter für einen inneren Ort der Ruhe, des Friedens und der unmittelbaren Gegenwart. Das Sitzen im Außen macht etwas mit dem Inneren des Menschen. Deshalb ist diese Routine in der Wildnispädagogik die erste und wichtigste von allen. Umzusetzen ist der Sitzplatz einfach:

Praxisübung: Finde deinen Sitzplatz

Such dir einen Platz in der Natur, an dem möglichst keine Menschen sind, und besuche ihn regelmäßig, am besten täglich. Das kann ein Ort in deinem Garten oder im Park vor deiner Haustür sein. Setz dich für 10, 15 oder 25 Minuten still an diesen Ort. Mit der Zeit lernst du diesen Platz kennen wie einen engen Freund. Du begegnest dort deiner Neugier und deinen ganz eigenen Wundern. Und du baust Kontakt auf zu Pflanzen, Tieren und dem Wetter. Du stellst dich deinen Ängsten – sei es vor Spinnen, Dunkelheit, Kälte oder dem Alleinsein. An diesen Erfahrungen wirst du wachsen und die Natur als dein Zuhause erleben.

Die Teilnehmer der Wildnispädagogik-Ausbildung sitzen am Lagerfeuer und erzählen die Geschichte des Tages.

Geschichte des Tages

Die Geschichte des Tages schließt am besten direkt an den Besuch des Sitzplatzes an. Denn in dieser Übung geht es darum, von der verbrachten Zeit in der Natur zu erzählen. Ob mündlich oder schriftlich: Die Geschichte des Tages ist quasi die Zwillingsschwester des Sitzplatzes. Sie schärft die Sinneswahrnehmung und Ortskenntnis – indem sie dazu anregt, das Erlebte in Worte zu kleiden. Die Geschichte des Tages fördert das achtsame Zuhören und stärkt die Integration innerhalb der Gemeinschaft. Wer alleine unterwegs ist, kann Beobachtungen in einem Naturtagebuch festhalten und mit Skizzen ergänzen.

Mit der „Geschichte des Tages“ greift diese Wildpädagogik-Routine eine alte menschliche Tradition auf: Den Brauch des Geschichtenerzählens oder Storytellings. Das fördert den Zusammenhalt, sammelt Wissen und schafft ein kollektives Gedächtnis.

Das Gegenmittel für das Naturdefizitsyndrom ist vielleicht ganz einfach: Bringen Sie Menschen dazu, Zeit in der Natur zu verbringen, empfangen Sie sie bei der Rückkehr mit guten Fragen und fangen Sie die Geschichten ein.
Coyote Guide Band 1 S. 53

Eine Teilnehmerin der Wildnispädagogik-Ausbildung kniet im Gras und schlich sich an andere Teilnehmer heran. Mit dieser Wahrnehmungsübung lernen die Schüler, sich achtsam in der Natur zu bewegen.

Die Sinne erweitern

Ein scharfes Messer schneidet besser als ein stumpfes. So ähnlich ist es auch mit unserer Wahrnehmung. Heutzutage haben viele Menschen den Bezug zum eigenen Körper verloren. Wir nehmen ihn nicht mehr wirklich wahr. Die Sinne zu schulen und zu erweitern bringt uns wieder in unseren Körper. Wir leben im Moment und können uns von den kleinen und feinen Dingen im Leben berühren lassen.

Daher lautet eine grüne Regel in der Wildnispädagogik „Nimm alles um dich herum wahr“. Das heißt konkret: Nutze alle deine Sinne, einzeln und vereint. Was siehst du? Was riechst du? Was spürst du? Diese Kernroutine stoppt den Autopiloten und trainiert die sinnliche Wahrnehmung. Damit erleichtert sie das Loslassen von eingefahrenen Denkmustern und Verhaltensweisen. Das Trainieren der Sinne stärkt die Vorstellungskraft. Wir nehmen um uns herum und in uns mehr wahr und entwickeln eine „Natur-Intelligenz“.

Auf dem Sand sind zwei Trittsiegel von einem Wildtier zu sehen. Daneben liegt ein Zollstock zum Messen der Größe der Spuren.

Fragen und Spurenlesen

Wer? Was? Wann? Wo? Warum? Wie? Wie Journalisten auf der Recherche stellen sich Fährtensucher dieselben sechs Fragen, um „auf die Spur zu kommen“ und das Rätsel einer Tierfährte zu lüften. Tatsächlich ist es faszinierend, einer Tierspur zu folgen und dabei die eigene Vorstellungskraft und Konzentration zu schulen. Auch Hilfsmittel wie Bestimmungsbücher oder ein Maßband sind nützlich.

In „Der Fährtensucher“ beschreibt Tom Brown Jr. das Spurenlesen als prägende Erfahrung: „Das Geheimnis streut sich auf den Weg wie eine Spur von Brotkrumen, und wenn du dich vorangegessen hast bis zum Erzeuger der Fährte, ist das Geheimnis in dir, für immer ein Teil von dir.18

Fragen und Spurenlesen macht deutlich: Das Leben ist ein Abenteuer. Jeden Morgen beginnt ein neuer Tag, der voller Wunder, Rätsel und Möglichkeiten steckt. Wer sich neugierig darauf einlässt, den durchströmt immer öfter Freude und ein Gefühl von Sinn.

Eine Teilnehmerin der Wildnispädagogik-Ausbildung rennt auf einer Wiese und breitet die Arme aus. Spielerisch lernen sie durch das Imitieren von Tieren das Verhalten der verschiedenen Vogelarten.

Tierformen

Das Verhalten und die Bewegungen von Tieren nachzuahmen, mag manchem Erwachsenen zunächst befremdlich vorkommen. Dabei ist es Teil der menschlichen Kultur – wie der indigene Adlertanz, Hund, Katze und Kobra als Yoga-Figuren oder wie das Imitieren von Tieren in der asiatischen Kampfkunst.

Für Kinder sind Tierformen noch das natürlichste der Welt: sie galoppieren wie Pferde, schleichen wie Schlangen oder bellen wie kleine Hunde. „Kinder sind süchtig nach Tieren, so sehr, dass sie regelmäßig zu Tieren werden. In Kindergärten kann es morgens vorkommen, dass ganze Rudel von wilden Wesen die Flure bevölkern. Wölfe, Löwen, Bären wimmeln einem um die Beine, als hätte eine Fee die ganze Schar noch vor dem Frühstück verwandelt. Schon die Kleinsten werden magnetisch von anderen Kreaturen angezogen: Säuglinge greifen instinktiv nach Käfern und Spinnen…“ schreibt Andreas Weber in „Mehr Matsch“19.

Auf spielerische Weise trainiert das Imitieren von Tieren die Wahrnehmung, die Ausdauer, das Einfühlungsvermögen. Und es macht Spaß – das merken schnell auch die Erwachsenen.

Eine Frau wandert im Wald.

Frei wandern

Vom Weg abweichen, nicht immer nur nach Plan funktionieren – dafür ist in unserem Alltag kaum Platz. Und nun sollen Teilnehmende an einem Kurs einfach so herumstreifen, ohne Ziel? Das ist tatsächlich typisch für die Wildnispädagogik: Mentoren planen ihre Programme gerne nach dem 50:50 Prinzip. Das heißt, die Hälfte des Tages wird verplant, die restliche Zeit bleibt für spontane Aktivitäten. Und dazu zählt das ziellose, unstrukturierte Herumstreifen, das Verlassen vorgegebener Wege. Für alle, die es selbst ausprobieren mögen, hier eine Anregung:

Praxisübung „Herumstreifen“

Nimm dir zwei bis drei Stunden Zeit im Wald und wandere einfach drauflos. Am besten wählst du eine vertraute Gegend und sagst vorher jemandem Bescheid, wohin du gehst. Neckt dich unterwegs die Neugier, dann verlass den Pfad oder Wanderweg und folge deinem Bauchgefühl. Dabei brauchst du keine weite Strecke zurücklegen. Du kannst in aller Ruhe schauen und lauschen. Mit dem Weg verlässt du deine gewohnten Routinen und Muster. Das kann die eigene Kreativität kitzeln und unerwartete Entdeckungen eröffnen.

Ich glaube, dass ich meine körperliche und geistige Gesundheit nur bewahre, indem ich täglich mindestens vier, gewöhnlich jedoch mehr Stunden damit verbringe, absolut frei von allen Forderungen der Welt durch den Wald und über Hügel und Felder zu schlendern.
Henry David Thoreau

Eine von Hand gezeichnete Landkarte vom Revier. Dies ist eine wichtige Kernroutine der Wildnispädagogik.

Landkarten erstellen

Ob auf Papier oder in Gedanken: Eine Landkarte zu erstellen hilft, sich in unbekanntem Gelände zu orientieren. Das gilt im Großstadtdschungel genauso wie im Wald oder in den Bergen. Wildnispädagogen und -pädagoginnen stellen sich die Umgebung dabei aus der Vogelperspektive vor. Und sie üben die Orientierung an den vier Himmelsrichtungen, bis diese zur Gewohnheit wird.

Das Zeichnen von Landkarten zielt nicht auf Perfektion ab. Nützlich sind natürliche Orientierungspunkte wie der Flusslauf, die ausladende Eiche, der Wasserfall oder die Himbeersträucher. Der Prozess des Zeichnens zeigt auch die Lücken auf, die wir nicht wahrnehmen. Am Ende ist es unwichtig, ob die Karte „stimmt“. Mit der Zeit und mit etwas Übung verbessert sich die Wahrnehmung. Damit stellen sich beim Zeichnen von Landkarten Erfolgserlebnisse ein.

In vielen traditionellen Kulturen beschreiben Songlines die Landschaft. Die Landkarte wird also gesungen und erzählt. Traditionell orientieren sich Aborigines in Australien mithilfe solcher Songlines oder Traumpfade über weite Strecken hinweg.

Praxisübung „Wo ist Norden?“

Schließ die Augen und deute nach Norden. Wohin zeigt dein Arm?
So simpel die obige Anweisung klingt, so schwer ist die Aufgabe. Wildnispädagogen führen diese Übung gerne in Gruppen durch. Die wild in alle Richtungen zeigenden Arme machen deutlich, wie wenig orientiert wir Menschen durch den Alltag gehen. Doch mit etwas Übung prägen sich die Himmelsrichtungen ein – und du kennst die Gegend wie deine eigene Westentasche.

Im Osten geht die Sonne auf,
im Süden nimmt sie ihren Lauf,
im Westen wird sie untergehen,
im Norden ist sie nie zu sehen.

Merkspruch für die Himmelsrichtungen

Praxisübung „Songline komponieren“

Für diese Übung brauchst du nicht musikalisch zu sein. Du denkst dir vielmehr eine Geschichte aus, um dir deine Umgebung einzuprägen. Schau dich in Ruhe um und lass dich von der Natur inspirieren. Gib den Orten Namen, an die du dich erinnern kannst: Giftpilzlichtung, Entenweiher, schweißtreibender Steilhang, glitschiges Ufer und so weiter.

Kleiner Tipp: Songlines oder Landschaftsgeschichten erfinden macht in der Gruppe noch mehr Spaß.

Teilnehmerinnen der Wildnispädagogik-Ausbildung lernen mit Bestimmungsbüchern auf dem Kursgelände der Wildnisschule Lupus.

Bestimmungsbücher erforschen

Wie die Zauberbücher bei Harry Potter gleichen Bestimmungsbücher wahren Schatztruhen. Wer sich von der eigenen Neugier leiten lässt, erschließt sich damit den Erfahrungsschatz von Generationen. Das Ergebnis ist ebenso verblüffend wie beglückend: Jemand läuft durch den Wald und sieht plötzlich einen Strauch oder einen Vogel, den er scheinbar nicht kennt. Und doch ist er oder sie sich sicher: „Das ist doch ein ______!“. Woher kommt dieses Wissen? Es ist „aus Versehen“ passiert, beim Eintauchen und unbewussten Blättern in Bestimmungsbüchern.

In ihrer Ausbildung lernen Wildnispädoginnen und -pädagogen einen Umgang mit Bestimmungsbüchern, der auf Erfahrungen und eigener Neugierde beruht. Das Ziel: Wissen wird nachhaltig begriffen und verankert.

„It is important to remember that we all have magic inside us”
JK Rowling

In einem Heft werden Notizen zu den Themen Pflanzenkunde und Laubhütte festgehalten. Das Notizbuch ist eine zentrale Kernroutine der Wildnispädagogik.

Naturtagebuch

Die Routine des Tagebuchführens verstärkt alle anderen Kernroutinen der Wildnispädagogik. Man könnte sagen: Sie dehnt die eigene Vorstellungskraft wie ein Gummiband. Denn alle Geschichten des Tages, Landkarten und Erfahrungen am Sitzplatz oder beim Erweitern der Sinne finden hier ihren Platz – beschrieben oder gezeichnet. Ein Datiersystem ist dabei laut Coyote Guide von großer Bedeutung: „Vermerken Sie am Anfang jeder Seite das Datum, die Jahreszeit, die Tageszeit, einen Pfeil, der Norden markiert und einen Hinweis auf das Wetter.20

Wer regelmäßig Texte und Skizzen über das eigene Erleben der Natur anfertigt, wird nicht mehr damit aufhören wollen. Die Routine erweitert das persönliche Vokabular an Farben und Worten. Sie schult die Aufmerksamkeit, eröffnet eine neue Sinneswelt und stärkt den Kontakt zum eigenen Selbst. Deshalb ist es gut, draußen immer ein Notizbuch und einen Stift in der Tasche zu haben.

Praxisübung „Naturtagebuch“

Halte deine Erlebnisse in der Natur in einem Tagebuch fest. Darin kannst du Begegnungen und Beobachtungen notieren, den Lauf der Jahreszeiten skizzieren und deine Gefühle in Worte fassen. So entsteht mit der Zeit ein einzigartiges Dokument deiner Naturverbindung.

Survival-Experte Maurice Ressel kniet im Wald und zerteilt Holz mit einem Messer.

Survival leben

Outdoor-Survival dreht sich um die grundlegenden menschlichen Bedürfnisse: Schutz, Wasser, Wärme, Nahrung und Werkzeuge. Survival bedeutet, auf sich allein gestellt in der Natur zu überleben. Dieses Wissen ist uralt – unsere Vorfahren haben es erfolgreich angewendet, denn sonst gäbe es uns heute nicht.

Survival-Training ist ein elementarer Teil der Wildnispädagogik, eine Art Quintessenz der Naturverbindung. Wildnisschulen bieten zudem separate Kurse in Survival an. Die Bandbreite reicht vom eintägigen „Raus aus der Stadt“ und mehrtägigen Survival-Kursen über Outdoor-Erste-Hilfe und Bogenbau bis hin zur Jagd- und Scout-Ausbildung.

Der Begriff „Survival“ ist tatsächlich bekannter als der Begriff „Wildnispädagogik“. Denn jede:r kennt Heldengeschichten wie die von Robinson Crusoe und hat sich schon einmal gefragt: „Wie wäre das, auf mich gestellt in der Wildnis überleben zu müssen?“ Unter dem Schlagwort „Survival“ spielen Reality Shows wie „Dschungelcamp“ oder „Naked and Afraid“ mit der Lust am Voyeurismus und am Nervenkitzel. Sie erzielen hohe Einschaltquoten. Doch sie spiegeln nicht einmal im Ansatz die sinnerfüllte Beziehung mit der Natur, um die es beim Survival geht.

Was ist so reizvoll an Survival? Die Techniken lehren, auch im modernen Leben voller Selbstvertrauen, selbstwirksam und unabhängig zu leben. Für alle, die mehr Wissen möchten: Das Erlernen elementarer Überlebenstechniken in der Natur ist ein breites Feld, das im Kapitel Inhalte der Wildnispädagogik ausführlich beleuchtet wird.

Teilnehmer einer Wildnispädagogik-Ausbildung schließen ihre Augen und konzentrieren sich auf die Geräusche um sie herum.

Das innere Auge

Bücherfans wissen: Aus einem Meer schwarzer Buchstaben entstehen vor ihrem inneren Auge faszinierende Geschichten. Hinter bloßem Papier verbirgt sich eine fremde Welt. Ähnlich ist es mit der Kernroutine „das innere Auge“: Sie lädt ein, die Natur zu lesen wie ein Buch. Indem sie hilft, alle Sinne und die eigene Vorstellungskraft zu verwenden und zu stärken. Das Ziel ist, Dinge intuitiv wahrzunehmen und so eine wache „Natur-Intelligenz“ zu entwickeln. Leitfragen sind: Was siehst du, hörst du, riechst du, spürst du? Das innere Auge ist auch nützlich beim Zeichnen von Landkarten oder im eigenen Naturtagebuch.

Warum ist diese Kernroutine besonders aktuell? Full-HD Filme, blinkende Werbetafeln und grafisch perfektionierte Videospiele – viele Menschen sind heute ständiger Reizüberflutung ausgesetzt. Diese Überstimulation lässt die innere Bilderwelt verblassen. Die Routine „Inneres Auge” stärkt die Vorstellungskraft.

Praxisübung für die eigene Vorstellungskraft

Du entdeckst im Wald eine Tierspur. Betrachte sie rund eine Minute lang ganz genau. Dann schließ die Augen und rufe dir ins Gedächtnis, was du gesehen hast. Anschließend betrachtest du die Spur erneut. Nun entdeckst du vermutlich Details, die dir vorhin entgangen sind.

Ein Schüler lernt in der Wildnispädagogik die Vogelsprache. Er legt seine Hände hinter die Ohren, um den Vogelgesängen besser lauschen zu können.

Die Sprache der Vögel

Die Vogelsprache lehrt, still zu sein und gut hinzuhören (oder auch hinzuschauen). In der Vogelsprache gibt es zwei Grundmuster, die sich zum Glück relativ einfach unterscheiden lassen: Harmonie und Alarm. Auch wenn jede Vogelart anders klingt, ist der Unterschied zwischen geschäftigem Zwitschern und Warnrufen leicht erkennbar. Warnrufe dienen nicht nur einer Vogelfamilie oder -art: „Die Vögel sind die Augen und Ohren der Natur und das Frühwarnsystem aller Tiere und Menschen!“, ist ein bekannter Satz von Vogelexperte und Buchautor Ralph Müller.

Tatsächlich geht es bei der Vogelsprache nicht nur um die Vogelwelt. Es geht auch um das Verständnis der wechselseitigen Beziehungen innerhalb und zwischen den Arten: Alles steht konstant über Gefühle miteinander in Verbindung und ist verflochten in das Netz des Lebens. Der Vogelsprache zu lauschen, regt Menschen dazu an, mit der Natur zu verschmelzen und keine Störung zu verursachen, um die Vögel nicht aufzuschrecken. Das erhöht die Chancen, im Wald scheue Tiere zu sichten, die sonst geflohen wären.

Mit dieser Kernroutine trainiert die Wildnispädagogik nicht nur ein besseres Naturverständnis, sondern stärkt auch die eigene Fähigkeit zur Selbsterkenntnis. Und sie hilft, Stimmungen und Schwingungen feiner wahrzunehmen. Das hilft auch im Umgang mit Menschen. Am Telefon mit unserer besten Freundin ahnen wir oft am Klang ihrer Stimme, dass sie etwas auf dem Herzen hat. Doch Stimme und Körpersprache von fremden Menschen und Tieren zu deuten, benötigt mehr Übung.

Wann immer sich im Wald ein Tier bewegt, ist es, als ob man einen Kieselstein in einen stillen Teich wirft: Auf der Wasseroberfläche breiten sich konzentrische Kreise aus und verkünden jedem, der von diesen Ringen berührt wird, eine Störung.“
Tom Brown Jr.

Ein Teilnehmer eines Kurses hält ein Stück Rinde in die Kamera. Auf diesem Stück Rinde ist Nahrung zu sehen, die als Dankbarkeitsritual vor jedem Essen zelebriert wird. Der Ahnenteller ist eine wichtige Kernroutine der Wildnispädagogik.

Danke sagen

Ob Erntedankfest oder Thanksgiving: Der Natur zu danken ist in wohl allen indigenen Kulturen der Erde verbreitet. In unserer modernen „Supermarktkultur“ jedoch ist die Dankbarkeit ein Stück weit in Vergessenheit geraten. Die Wildnispädagogik erinnert mit dieser Kernroutine an die gegenseitige Abhängigkeit aller Lebewesen. Und an ihre Lebensgrundlage, die Natur. Wie immer geht es dabei nicht um „die Natur“ als etwas außerhalb des Menschen, sondern um den Menschen als Teil der Natur.

Die Medien informieren uns Tag für Tag darüber, was alles schlecht läuft auf der Welt. Die Kernroutine des Danksagens dagegen lenkt unseren Fokus auf die guten Dinge: Luft zum Atmen, sauberes Trinkwasser, frisches Gemüse und, und, und. Wie die Gehirnforschung belegt, bestimmt unsere Aufmerksamkeit, wie wir die Realität wahrnehmen. Sprich: Wer seine Aufmerksamkeit auf die Dinge lenkt, die gut laufen in der Welt, nimmt mehr davon wahr.

Doch kein Licht ohne Schatten: Danken sollten wir auch für herausfordernde Zeiten, die disharmonisch und unangenehm sind. Spricht man auch diesen seinen Dank aus, erleben wir den Wert solch schwieriger Phasen klarer. Im Danksagen wenden wir uns dem Leben zu, mit allen Höhen und Tiefen, mit Licht und Schatten.

Praxisübung „Danken“

Stell einen Dank an den Anfang: beim Aufstehen, vor dem Essen oder wenn du abends schlafen gehst. So wird eine Danksagung an das Leben zur Routine – und stärkt gleichzeitig deine Verbindung zur Natur.

Weitere Beispiele zu den Kernroutinen bietet dieses PDF der Wildnisschule Lupus.

Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) und Wildnispädagogik

Wie viele Erden braucht die Menschheit?

Für unseren derzeitigen Lebensstil reicht eine Erde nicht: Seit 1970 rückt der „Earth Overshoot Day“ immer weiter nach vorne im Jahr. 2022 auf den 28. Juli. Dieser „Erdüberlastungstag“ markiert, ab wann wir die pro Jahr vorhandenen natürlichen Vorkommen wie Wasser und Rohstoffe verbraucht haben. Das heißt, wir leben „auf Pump“ – auf Kosten nachfolgender Generationen. Denn wir haben eben nur eine Erde.

Der „Earth Overshoot Day“ ist ein weltweiter Durchschnitt. Er wird pro Land berechnet. 2021 war er in den Vereinigten Arabischen Emiraten, in Bahrain oder den USA bereits im März erreicht, in Deutschland oder Frankreich im Mai und in Indonesien erst im Dezember.

Nachhaltigkeit ist seit einigen Jahren das große Schlagwort – bei Fridays-for-Future, in der Politik, in den Medien und Konzernetagen sowie im Lebensstil vieler Menschen. Das Zukunftsinstitut spricht vom wichtigsten Megatrend unserer Zeit. Dennoch rückt der Earth Overshoot Day Jahr für Jahr weiter nach vorne (mit einer Ausnahme im Pandemiejahr 2020). Beim Stichwort Trend oder Megatrend handelt es sich oft um etwas Neues. Bei Nachhaltigkeit und Umweltbewusstsein ist das Gegenteil richtig. Über Jahrhunderte hin lebten Menschen nachhaltig – lange bevor es den Begriff überhaupt gab. Ein Beispiel ist das „7-Generationen-Prinzip der Irokesen“.

Das 7-Generationen-Prinzip der Irokesen

Bereits im 15. Jahrhundert schlossen sich mehrere Irokesenstämme zur Irokesen-Liga zusammen. Bei den Briten war der Bund als Five Nations bekannt, nach dem Eintritt der Tuscarora 1722 als Six Nations. Die Grundlage für das friedliche Zusammenleben der Liga war das „Große Gesetz des Friedens“, eine Art demokratische Verfassung. Diese enthält auch das Sieben-Generationen-Prinzip. Darin heißt es: „Schaue und höre auf das Wohl des ganzen Volkes und habe immer nicht nur im Blick die gegenwärtigen, aber auch die kommenden Generationen, selbst diejenigen, deren Gesichter noch unter der Erdoberfläche sind – die Ungeborenen der zukünftigen Nation.“ Die Zahl sieben mag symbolisch gewählt sein, doch die Essenz ist klar: Wie wirken sich meine Entscheidungen auf Wasser, Erde, Tiere, Pflanzen, Luft und Menschen aus? Wie kann ich so handeln, dass folgende Generationen eine lebenswerte Erde vorfinden?

Schaue und höre auf das Wohl des ganzen Volkes und habe immer nicht nur im Blick die gegenwärtigen, aber auch die kommenden Generationen, selbst diejenigen, deren Gesichter noch unter der Erdoberfläche sind –
die Ungeborenen der zukünftigen Nation. Aus dem 7-Generationen-Prinzip der Irokesen

Am Beispiel der frühen Irokesen wird deutlich: Nachhaltigkeit ist keine Erfindung der modernen Gesellschaft. Sie ist ein Prinzip, das in vielen Kulturen und Gemeinschaften auf der ganzen Welt seit Jahrhunderten praktiziert wird. In dem wir nachhaltiges Handeln wiederentdecken, können wir von vergangenen Generationen lernen und so selbst wieder nachhaltiger leben.

Bildung für nachhaltige Entwicklung soll vor allem Kinder und Jugendliche zu nachhaltigem Handeln und Gestalten befähigen. Dazu passt auch der Ansatz der Wildnispädagogik: Zu schauen, welche Lösungen für moderne Probleme sich bei den Naturvölkern finden. Für den Wildnispädagogen Maurice Ressel kommt darin eine Lebenshaltung zum Ausdruck: „Nicht höher, schneller, weiter, sondern verwurzelt, gelassen, fokussiert“.

Unesco-Programm „Bildung für nachhaltige Entwicklung“

Wie kann Nachhaltigkeit weltweit wachsen, im Bewusstsein und im Tun? Nationale und internationale Akteure haben dafür eine Bildungskampagne ins Leben gerufen.

Die Resolution zur UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ beginnt mit folgenden Sätzen: „Nachhaltige Entwicklung ist eine der großen Herausforderungen unserer Zeit. Wir stehen vor der Aufgabe sicherzustellen, dass die natürlichen Lebensgrundlagen für alle Geschöpfe der Erde bewahrt werden und die Lebenschancen der Menschen weltweit fair und gerecht verteilt sind. Gleichzeitig müssen wir im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung dafür Sorge tragen, dass künftige Generationen gleiche Chancen auf ein erfülltes Leben haben wie wir. Der Weg hin zu mehr Nachhaltigkeit führt über die Bildung. Sie muss daher auch als wichtiges Instrument für die Bewältigung globaler Umweltprobleme erkannt werden.“ Rund 500 Jahre später klingt diese Resolution ähnlich wie das 7-Generationen-Prinzip der Irokesenliga. In mehreren Stufen zielen die UN-Dekaden darauf ab, Prinzipien der Nachhaltigkeit zunächst in den Bildungssystemen und Institutionen zu verankern.

BNE in einem Satz

Was ist BNE? „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ (BNE) ist eine Bildungskampagne, initiiert von der UNESCO und getragen von zahlreichen Akteuren auf nationaler und internationaler Ebene.

Gemeinsame Ziele von BNE und Wildnispädagogik

Im seit 2020 gestarteten UNESCO-Dekadenprogramm zu BNE: „Education for Sustainable Development: Towards achieving the SDGs“ (kurz ESD for 2030; deutsch: BNE 2030) stellen die Vereinten Nationen 17 Nachhaltigkeitsziele, sogenannte SDGs, in den Vordergrund.
Die Agenda kann man hier nachlesen.

Wie kann Wildnispädagogik zum Erreichen einiger SDGs für nachhaltige Entwicklung beitragen?

Als eine Form der Umweltbildung teilt die Wildnispädagogik einige Ziele oder SDGs für nachhaltige Entwicklung. Dazu zählen:

SDG 2: Ernährung sichern
SDG 3: gesundes Leben für alle
SDG 4: Bildung für alle
SDG 12: nachhaltiger Konsum
SDG 13: Klimawandel bekämpfen
SDG 15: Landökosysteme schützen
SDG 16: Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen

In ihrem Kern fragt die Wildnispädagogik: Welche Lösungsansätze für moderne Probleme finden sich bei den Naturvölkern? Ihre Methoden fördern erfahrungsorientiertes, selbstbestimmtes Lernen. Das passt gut zur BNE, die auf ganzheitliche, interaktive und partizipative Bildung setzt und Gestaltungskompetenzen vermitteln will. Deshalb ist es wenig erstaunlich, dass ausgewählte Wildnisschulen eine BNE-Zertifizierung erlangt haben.

Maurice Ressel von der Wildnisschule Lupus zum Beispiel sagt: „Wir integrieren die Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) in unsere Wildnispädagogik- Ausbildung, um die Teilnehmer:innen zu zukunftsfähigem Denken und Handeln zu befähigen. Als „Macher“ sollen sie eigene Projekte auf die Beine stellen, um einen Teil der Probleme dieser Welt zu lösen. Jede(r) Einzelne wird nach der Ausbildung wissen: “Mein Handeln hat Konsequenzen – nicht nur für mich und mein Umfeld, sondern auch für andere. Ich kann dazu beitragen, die Welt ein Stück weit zu verbessern und andere überzeugen, das Gleiche zu tun”.

Wir bekennen uns als Schule zu den 17 Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen. Wir sind überzeugt, mit der Wildnispädagogik nachhaltigen Konsum fördern, Klimawandel bekämpfen, Landökosysteme schützen und Frieden und Gerechtigkeit fördern zu können.
Maurice Ressel, Wildnisschule Lupus

Ein Wildnispädagoge steht im Wald und pflückt junge Fichtentriebe vom Baum.

Widerspruch zwischen Wildnispädagogik und Naturschutz?

Wer etwas kennt und liebt, will es schützen. Insofern fördert die Wildnispädagogik die tiefe Auseinandersetzung mit der Natur: Sie lehrt Menschen, sich selbst als Teil dieser Natur zu begreifen.
Doch steht sie damit nicht im Widerspruch zum modernen Naturschutz, in dem der Mensch oft als störender Eindringling erscheint? Ist es nicht besser, die Natur in Ruhe zu lassen, sich an markierte Wege zu halten, anstatt durchs Dickicht zu kriechen?

Tatsächlich besteht hier ein Widerspruch. Da lohnt es sich, näher hinzuschauen:
Die klassische Wildnispädagogik stammt aus einer Zeit, in der Menschen weniger flächendeckend in die Natur eingegriffen haben als heute. Inzwischen bewegt sich die Wildnispädagogik im Spannungsfeld zwischen Naturschutz und Naturnutzung. Das Wirken in der Natur muss demnach in der modernen Wildnispädagogik bestimmten Regeln unterliegen. Ansonsten besteht die Gefahr, das Gegenteil eines ihrer wichtigsten Ziele zu bewirken, nämlich den Rückgang und die Zerstörung von Biodiversität. Wie wird das in der Praxis gehandhabt?

Eine Ausbildung in Wildnispädagogik ist kein Sonntagsspaziergang. Die Schülerinnen und Schüler kommen nicht umhin, Wege zu verlassen und in die Natur einzutauchen. Denn Naturverbindung funktioniert nicht ohne Natur. Sie benötigt Zeit und eine intensive Auseinandersetzung mit dem Draußensein. Doch dieses „Naturstudium“ bewegt sich stets im Rahmen der Wald- und Naturschutzgesetze des Bundes und der Länder.

Wem diese Form von Bildung zu „invasiv“ erscheint, sollte sich fragen, wo die eigenen Holzmöbel herkommen. Das Befriedigen menschlicher Bedürfnisse nach Rohstoffen, Mobilität und Lebensraum verdrängt direkt oder indirekt natürliche Lebensräume. Die Forderung, den Menschen weiter aus dem Naturraum zu entfernen, würde das Problem der Entfremdung nur verschärfen. Je weniger Zeit wir in der Natur verbringen, desto weniger sehen wir, was dort draußen fehlt und stirbt.

Wie eingangs geschrieben: Wer die Natur kennt, lernt sie lieben und bewahren. Und das – so zeigt der Blick auf indigene Völker – ist die beste Grundlage für Nachhaltigkeit und Naturschutz, die es geben kann.

Kritik an der Wildnispädagogik

Wie jeder Bildungsansatz zieht auch die Wildnispädagogik kritische Stimmen an. Das ist kein Wunder, denn Meinungsverschiedenheiten und unterschiedliche Interpretationen sind zwischen Menschen nie auszuschließen. Schon gar nicht bei einem nicht rechtlich geschützten Begriff. Wir nehmen uns hier typische Kritikpunkte vor und beleuchten sie näher.

„Sollen wir etwa alle wieder leben wie in der Steinzeit?“

In der Wildnispädagogikausbildung verbringen die Lernenden häufig mehrere Tage abseits der Zivilisation. Der weitgehende Verzicht auf technische Hilfsmittel wie Herd und Heizung führt zu einer Konzentration auf das Wesentliche: Einen Unterschlupf bauen, Wasser sowie Essbares sammeln und Feuer machen. Jede:r in der Gruppe erledigt eigene Aufgaben. So ist am Ende für alle gesorgt. Dieses Erleben der eigenen Selbstwirksamkeit erfahren viele Teilnehmende als zutiefst befriedigend und erfüllend – sie kehren anschließend mit neuen Ideen und frischem Schwung in ihren Alltag zurück.

Rückwärtsgerichtete, technikfeindliche Spinner sind Wildnispädagoginnen und Wildnispädagogen deshalb noch lange nicht. Der Ansatz ist nicht, zu leben wie in der Steinzeit oder bei indigenen Völkern. Sondern zu schauen: Welche Lösungen hatten unsere Vorfahren oder indigene Völker, die wir bei modernen Problemen anwenden können? Ein Beispiel dafür ist das Projekt „Fish in the Fields“.

Der Ansatz ist außerdem, sich selbst wieder als Teil der Natur zu begreifen – und damit die eigene Gesundheit und Resilienz zu fördern. Dafür kann es sehr wohltuend sein, das Smartphone für einige Stunden zu Hause zu lassen.

„Ist das nicht eher eine weltfremde Insel als eine Schule für Macher:innen?“

Ähnlich wie Bildung für nachhaltige Entwicklung verfolgt die Wildnispädagogik das Ziel, Menschen ins Handeln zu bringen. Der Lernort Wildnispädagogik ist demnach alles andere als eine Insel, welche die Natur als vermeintlich heile Welt verklärt. Auch wenn es antizivilisatorische oder romantische Strömungen in der Szene geben mag: Die Mehrheit der Wildnisschulen ist pragmatisch orientiert. „Wildnis kann überall sein, auch mitten in der Stadt, mitten im Leben der Teilnehmenden. Als Kriegsfotograf hat mich die Konfrontation mit den großen Weltproblemen dazu bewogen, eine Wildnisschule zu gründen. Denn die Wildnispädagogik kann ein Werkzeug zum Umgang mit der Komplexität der Welt und für nachhaltige Lösungen sein,“ erzählt Maurice Ressel von der BNE-zertifizierten Wildnisschule Lupus in Eberswalde bei Berlin.

„Ist Survival ein Einfallstor für Menschen mit rechter Gesinnung?“

Survival-Training ist ein Teilgebiet der Wildnispädagogik. Wie der Name „Überleben“ nahelegt, geht es im klassischen Survival um Kenntnisse und Fertigkeiten für das (Über-)Leben in Notsituationen, meist fernab der Zivilisation. Im zivilen Bereich betreiben Menschen Survival als Hobby, auf Expeditionen oder auch im Katastrophenschutz – Stichwort Prepper. Im militärischen Bereich drehen sich Survival-Lehrgänge um das Überleben und Durchschlagen in Krieg und Krisensituationen. Ganz wichtig: Weder Survival noch Umweltbildung/Wildnispädagogik sind politisch. FARN – die Fachstelle Radikalisierungsprävention und Engagement im Naturschutz – warnt jedoch von einer möglichen Unterwanderung durch Rechtextreme, die das Thema nutzen könnten um braune Mythen und Glaubenssätze zu streuen.

In der Praxis beziehen die Wildnisschulen in der Regel deutlich Stellung und lassen sich nicht von rechtem oder militaristischem Gedankengut vereinnahmen. Hier zum Beispiel ein Auszug aus dem Leitbild einer deutschen Wildnisschule: „Wir distanzieren uns von politischen Meinungen oder Haltungen, wir verfolgen keine religiösen Ideologien. Bei uns ist jede:r willkommen. Gleichzeitig dulden wir keine Stimmungsmache während der Kurse und behalten uns vor, uns während eines Kurses von Teilnehmer:innen zu verabschieden, die sich rassistisch, antisemitisch oder diskriminierend äußern.

Übrigens nutzt die Wildnispädagogik als Bildungskonzept die Inhalte aus dem Survival nicht primär zur Vorbereitung auf Notsituationen. Ihr geht es vorrangig darum, Menschen für den modernen, „zivilisierten” Alltag zu stärken. Dabei spielen Einfachheit, Minimalismus und Multifunktionalität im Bereich Survival eine besondere Rolle. Wenn ich weiß, dass ich draußen mit nur wenigen Dingen leben und mich wohlfühlen kann, ändert sich auch meine Haltung im Alltag. Meine Bedürfnisse verschieben sich.

„Ist Survival ein Einfallstor für Menschen mit rechter Gesinnung?“

Survival-Training ist ein Teilgebiet der Wildnispädagogik. Wie der Name „Überleben“ nahelegt, geht es im klassischen Survival um Kenntnisse und Fertigkeiten für das (Über-)Leben in Notsituationen, meist fernab der Zivilisation. Im zivilen Bereich betreiben Menschen Survival als Hobby, auf Expeditionen oder auch im Katastrophenschutz – Stichwort Prepper. Im militärischen Bereich drehen sich Survival-Lehrgänge um das Überleben und Durchschlagen in Krieg und Krisensituationen. Ganz wichtig: Weder Survival noch Umweltbildung/Wildnispädagogik sind politisch. FARN – die Fachstelle Radikalisierungsprävention und Engagement im Naturschutz – warnt jedoch von einer möglichen Unterwanderung durch Rechtextreme, die das Thema nutzen könnten um braune Mythen und Glaubenssätze zu streuen.

In der Praxis beziehen die Wildnisschulen in der Regel deutlich Stellung und lassen sich nicht von rechtem oder militaristischem Gedankengut vereinnahmen. Hier zum Beispiel ein Auszug aus dem Leitbild einer deutschen Wildnisschule: „Wir distanzieren uns von politischen Meinungen oder Haltungen, wir verfolgen keine religiösen Ideologien. Bei uns ist jede:r willkommen. Gleichzeitig dulden wir keine Stimmungsmache während der Kurse und behalten uns vor, uns während eines Kurses von Teilnehmer:innen zu verabschieden, die sich rassistisch, antisemitisch oder diskriminierend äußern.

Übrigens nutzt die Wildnispädagogik als Bildungskonzept die Inhalte aus dem Survival nicht primär zur Vorbereitung auf Notsituationen. Ihr geht es vorrangig darum, Menschen für den modernen, „zivilisierten” Alltag zu stärken. Dabei spielen Einfachheit, Minimalismus und Multifunktionalität im Bereich Survival eine besondere Rolle. Wenn ich weiß, dass ich draußen mit nur wenigen Dingen leben und mich wohlfühlen kann, ändert sich auch meine Haltung im Alltag. Meine Bedürfnisse verschieben sich.

„Wieso gibt es keine feste Definition für die Ausbildung?“

Die Tageszeitung taz bemängelt in einem Artikel über den Boom von Wildnispädagogik-Schulen: „Eine verbindliche Detaildefinition ihrer Ziele, Methoden, Begriffe und Themenfelder gibt es nicht, Dauer und Aufbau der Ausbildung variieren von Anbieter zu Anbieter, und die Grenzen zur Umwelt-, Natur-, Öko- und Erlebnispädagogik sind fließend.“

Richtig ist: Es gibt keinen allgemeinverbindlichen Ausbildungsleitfaden für Wildnispädagogik. Allerdings ist auch ein Abitur in Bayern nicht dasselbe wie in Hessen. Tatsächlich ist die einjährige Ausbildung in Wildnispädagogik vom Umfang und den Inhalten her in den meisten Wildnisschulen vergleichbar.

In der weiterführenden Ausbildung kann jede Schule ihren eigenen Schwerpunkt setzen. Ob mehr Survival oder mehr Spiritualität, das Schöne ist: Jede:r kann die für sich passende Weiterbildung finden. Schließlich sind auch die Anwendungsmöglichkeiten der Wildnispädagogik-Ausbildung – vom Kindergarten bis zur Erwachsenenbildung – vielfältig.

„Stört Wildnispädagogik die Natur mehr, als sie zu schützen?“

Verstädterung, Internet, Smartphones: Schon Kindern fehlt oft der Kontakt zur Natur. Interessanterweise trägt der Naturschutz selbst zum Problem der Naturentfremdung bei. Früher sammelten Kinder am Wasser Kaulquappen und beobachteten, wie daraus Frösche wurden. Heute macht man sich damit womöglich strafbar.

Doch Naturschutz geht nur im Miteinander von Mensch und Natur. Allerdings braucht es Regeln für den Umgang mit und den Aufenthalt in der Natur. Diesen Rahmen bilden die Wald- und Naturschutzgesetze des Bundes und der Länder. Die Wildnispädagogik befolgt diese Regeln nicht nur, sie lehrt darüber hinaus, möglichst keine Spuren in der Natur zu hinterlassen. Ein nächtlicher Rastplatz samt Feuerstelle soll zum Beispiel genauso zurückgelassen werden, wie er angetroffen wurde.

Ein historisches Bild von einem Indianer auf seinem Pferd. Es wird Kritik an der Wildnispädagogik geäußert, dass sie fremdes Kulturgut unreflektiert übernimmt.

„Kopiert die Wildnispädagogik nicht nur fremde Kulturen?“

Viel von dem in deutschsprachigen Wildnisschulen unterrichteten Wissen stammt aus anderen Kulturen. Eine Hauptquelle der Wildnispädagogik ist zum Beispiel das Leben von Stalking Wolf, der die Lehren der Naturvölker Nordamerikas sammelte. Insofern könnte der Eindruck entstehen, die Wildnispädagogik kopiere fremde Kulturen. Dabei bleibt allerdings ein bezeichnender Faktor außer Acht: Die Wildnispädagogik ist gekennzeichnet von einer fragenden Haltung. Diese lautet: Ist das Wissen und die Kultur für uns anwendbar? Neben Stalking Wolf sammelte auch Jon Young Einflüsse verschiedener Kulturen und stellte dabei stets die Frage: Sind diese Erkenntnisse heute noch sinnvoll und nützlich? Die alten Lehrer der Wildnispädagogik haben somit die Essenz der nativen Kulturen herausgearbeitet. Diese Essenz kann helfen, die Wurzeln unserer eigenen Kultur wiederzuentdecken und zu entwickeln.

Tatsächlich lassen sich die Grenzen zwischen kultureller Verständigung und kultureller Aneignung nicht klar definieren. Ist die Wildnispädagogik auch ohne den Bezug zu indigenen Kulturen in Nordamerika denkbar? Braucht die Wildnispädagogik die Geschichten von “edlen Wilden” als Bezugspunkt? Nicht wirklich. Sie kann fremde Kulturen ehren, sich daneben jedoch auf traditionelle mitteleuropäische Kulturen als Referenzpunkte stützen. Und sie kann eigene Lieder, Geschichten und Rituale prägen. Anknüpfen an die eigene Kultur ist das Stichwort.

Ein praktisches Beispiel: Anstatt weißen Salbei als Räucherwerk aus den USA zu bestellen, kann man den in Mitteleuropa heimischen Beifuß für Rituale wie das Räuchern verwenden.

Wildnispädagogik und verwandte Strömungen

Lernen an der Natur spricht alle Sinne an. Es verspricht ein Mehr an Bewegung und ein Weniger an Stress. Kein Wunder, dass sich eine Vielzahl pädagogischer Ansätze und Schulen mit dem Lernen und Leben in der Natur beschäftigen.

Aber was ist eigentlich der Unterschied zwischen Umweltpädagogik, Naturpädagogik oder Wildnispädagogik? An dieser Stelle bringen wir Licht in den Begriffsdschungel. Denn gerade die pädagogischen Konzepte Umwelt-, Natur-, Erlebnis- und Wildnispädagogik werden oft verwechselt oder als Synonym gebraucht. Survival und Bushcraft passen nicht direkt in die Liste der pädagogischen Ansätze, da sie mehr auf praktischen Fertigkeiten und Überlebenstechniken basieren. Doch auch für Survival und Bushcraft gibt es an Wildnisschulen viele Weiterbildungen. Und tatsächlich vereint die Wildnispädagogik viele der genannten Schulen, inklusive Survival und Bushcraft.

Ungeduldig? Hier ein schneller Überblick vorneweg:

Eine Grafik, die die Unterschiede zwischen Umweltpädagogik, Erlebnispädagogik, Naturpädagogik, Waldpädagogik, Wildnispädagogik, Bushcraft und Survival verdeutlicht.

Umweltpädagogik

Leitfrage: Wie sensibilisieren wir Menschen für Umweltprobleme und Nachhaltigkeit?

Die Umweltpädagogik vermittelt Wissen, Werte und Fähigkeiten für eine nachhaltige Nutzung und den Schutz der Umwelt. Sie thematisiert ökologische, soziale und wirtschaftliche Probleme wie zum Beispiel Artenschutz sowie Klimawandel. Und sie fördert das Verständnis für deren Zusammenhänge. Umweltpädagogen arbeiten zum Beispiel bei Naturschutzorganisationen, in Schulen und Umwelt-Bildungseinrichtungen.

Erlebnispädagogik

Leitfrage: Wie können Erlebnisse die soziale und persönliche Kompetenz fördern?

In der Erlebnispädagogik stehen Angebote für Gruppen im Vordergrund. Die Teilnehmenden sollen dabei selbst aktiv werden. Dabei trainieren sie Selbstvertrauen und die Fähigkeit, Probleme gemeinsam zu lösen. Zum Beispiel überwinden sie in der Gruppe ein Hindernis, bauen ein Floß, paddeln, arbeiten mit Pferden oder klettern. Für die Aus- oder Weiterbildung in Erlebnispädagogik gibt es verschiedene Wege. Auch Sozialarbeiter:innen und Sozialpädagog:innen nutzen häufig Methoden der Erlebnispädagogik in Ihrer Arbeit, zum Beispiel an Schulen oder in Jugendgruppen.

Naturpädagogik

Leitfrage: Was erfahren und erleben Menschen in der Natur?

Ähnlich wie die Umweltpädagogik will die Naturpädagogik Menschen für die Natur sensibilisieren. Die Natur ist dabei sowohl Inhalt des Lernens als auch „Klassenzimmer“ oder Lernumgebung. Naturpädagogik fördert das Bewusstsein für die natürliche Umgebung und die Beziehung zwischen Mensch und Natur. Die Berufsbezeichnung Naturpädagogin / Naturpädagoge ist nicht geschützt. Willkommen sind Menschen mit dieser Ausbildung zum Beispiel in Waldkindergärten oder Umweltschutzorganisationen.

In einem Wildnispädagogik-Familien-Camp verwendet der Mentor die Methode des Naturmandalas, um mit einer Familie eine Verbindung zur Natur herzustellen.

Waldpädagogik

Leitfrage: Was können Menschen im Wald lernen?

Die Waldpädagogik (auch Walderziehung oder forstliche Umweltbildung) ist ein Teilgebiet der Naturpädagogik. Wie der Name sagt, dreht sich hier alles um den Lernort Wald. Im Mittelpunkt steht die nachhaltige Waldnutzung und Forstwirtschaft. Wie das Waldbaden macht die Waldpädagogik Lust auf den Lebensraum Wald. Kinder und Erwachsene sind zum Beispiel eingeladen, die Rinde von Bäumen zu erspüren, Vogelstimmen zu lauschen oder Mandalas aus Zapfen und Ästen zu kreieren. Nebenbei lernen sie heimische Bäume, Pflanzen und Tiere im Ökosystem Wald kennen. Mit einer Fortbildung in Waldpädagogik kann man beispielsweise in Waldkindergärten, Forstämtern oder als selbstständige:r Referent:in arbeiten.

Wildnispädagogik

Leitfrage: Wie gelingt eine tiefe Verbindung mit der Natur & was können moderne Menschen von indigenen Völkern lernen?

Die Wildnispädagogik vermittelt Wissen und Fertigkeiten für das Leben in der freien Natur. Dabei greift sie vielfach auf Lehrmethoden indigener Völker zurück. Praktische Erfahrungen und indirekte Wissensvermittlung (vergleiche Coyote Mentoring) sind typisch für die Wildnispädagogik. Indem sie lernen, ohne Streichholz ein Feuer zu entzünden oder Tierspuren zu lesen, sollen die Schüler:innen ihre Sinne schärfen und sich selbst (wieder) als Teil der Natur wahrnehmen. Zahlreiche Wildnisschulen bieten Kurse und Weiterbildungen in Wildnispädagogik. Wildnispädagoginnen und Wildnispädagogen arbeiten mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen.

Die Grenzen zwischen Bushcraft und Survival sind fließend. Deshalb sind die folgenden Erklärungen nur eine mögliche Sichtweise:

Teilnehmer eines Bushcraft-Kurses bauen im Wald aus Holz ein Camp.

Bushcraft

Leitfrage: Welche Fertigkeiten braucht man für das zeitweise Leben in der Natur?

Verglichen mit den bisher vorgestellten Konzepten ist Bushcraft eher eine Sammlung praktischer Fertigkeiten als eine pädagogische Methode. Der Name „Bushcraft“ besteht aus den englischen Wörtern „bush“ für Busch/Gehölz und „craft“ für Handwerk oder Fertigkeit. Inhaltlich dreht sich Bushcraft also um Fertigkeiten für das Leben draußen. Die Motivation ist in der Regel der Wunsch nach stärkerer Naturverbundenheit. Im Unterschied zum Survival steht der Freizeitaspekt im Vordergrund, der Aufenthalt in der Natur aus freien Stücken. Wer tiefer einsteigen möchte: Einen ausführlichen Artikel über die Geschichte des Bushcraft hat Maurice von der Wildnisschule Lupus verfasst.

Survival

Leitfrage: Wie kann man in Notsituationen in der Wildnis überleben?

Survival oder Überlebenstraining dreht sich um das Handeln in Notsituationen. Wichtig ist das Decken von Grundbedürfnissen. Dazu zählen Feuer machen, Wasser und Nahrung finden, Unterschlupf bauen, Erste Hilfe und Navigation. Aus dem Blickwinkel des Survival ist die Natur tendenziell ein gefährlicher Ort. Survival-Techniken finden sich auch im militärischen Kontext – in dem Fall kann die feindliche Umgebung auch eine urbane sein.

Ohne zu tief in die Materie einzutauchen wird klar: Survival und Bushcraft handeln beide von selbstbestimmtem (Über-)Leben in der Natur. Doch die Motivation ist grundverschieden: Beim Bushcraft geht es um ein freiwilliges Einlassen und um die Freude an der Natur. Beim Survival steht das Überleben in einer potentiell gefährlichen Umwelt im Vordergrund. Wer tiefer einsteigen möchte: Einen ausführlichen Artikel über die Geschichte des Survival hat Maurice von der Wildnisschule Lupus verfasst.

Ein Teilnehmer eines Scout-Kurses liegt auf dem Waldboden und beobachtet eine andere Gruppe aus der Ferne.

Exkurs: Der Weg des Scout

Viele Menschen verspüren Sehnsucht nach Abenteuer, nach einem Kick. In ihrem Leben passiert zu wenig Spannendes. Sie suchen nach Befriedigung im Außen. Sie schauen Krimis oder Nachrichten, spielen Videospiele oder machen bei Partys die Nacht zum Tag. Auch das Smartphone verführt dazu, alle paar Minuten aufs Display zu schauen: Ist endlich eine neue, aufregende oder stimulierende Nachricht eingegangen?

Das Scout-Training kann diese tiefe Sehnsucht nach Abenteuer erfüllen – für Körper, Geist und Seele. Seine Inhalte überschneiden sich mit denen der Wildnispädagogik, doch der Zweck der Ausbildung ist ein anderer: Während die Wildnispädadgogik das lehrende Element der „Pädagogik“ schon im Namen trägt, steht beim Scout-Training das eigene Ich im Mittelpunkt. Es geht um die Verbindung zum eigenen Kern, zum Kanalisieren der Tatkraft.

Der Scout (m/w/d) steht für den Archetyp des Erdhüters, Wächters, Kriegers, Guardians oder Bodhisattva. In indigenen Stämmen waren Scouts Kundschafter, Fährtenleser und Beschützer.

Exzessiver Konsum und Reizüberflutung ist eine Falle, die auch ein moderner Scout durchschaut. Denn ihm oder ihr ist klar: Die Erfüllung dieser Sehnsucht findet sich nicht im Außen. Erst, wenn ein Mensch bereit ist, tief in den Moment einzutauchen, gelangt er oder an jenen Ort, nachdem sich jede:r sehnt. Dorthin, wo ein wirkliches Erleben stattfindet. Auf dem Weg des Scouts füllen sich die Augenblicke mit Sinn. Dabei erfahren die angehenden Scouts, was es heißt, ein „Abenteurer“ oder eine „Abenteurerin“ zu sein. Und das geht überall. Sie brauchen dafür nicht mit Pfeil und Bogen in den Krieg ziehen oder sich in einer Tonne die Niagarafälle hinunterstürzen. Sie brauchen sich lediglich zu 100 Prozent einlassen auf das Geschehen im Hier und Jetzt.

Scouts geben sich nicht mit Oberflächlichem zufrieden – ihnen geht es um den Kern und Ursprung der Dinge. Naturentfremdung und Rationalisierung sind für sie wie ein roter Faden, der sich durch die Probleme, Blockaden und Ungleichheiten unserer „zivilisierten“ Welt zieht. Ein Scout geht nicht durch die Welt, um andere Menschen zu heilen oder zu verändern. Ein Scout weiß, dass jeder Seinszustand seine Richtigkeit hat. Der Scout (m/w/d) ist vielmehr bestrebt, Räume für authentische Selbsterfahrung und Selbsterkenntnis zu öffnen. In diesen können sich seine oder ihre Mitmenschen der natürlichen Organisation und Selbstheilungskraft bewusst werden. In der Gegenwart eines Scouts wird man einfacher realisieren: Ich bin ein Teil des Ganzen, untrennbar verbunden mit und verwoben in das Netz des Lebens.

Ausführliche Infos zum Scout-Training gibt es zum Beispiel bei der Wildnisschule Lupus.

Einzelnachweise

  1. Brown, T./Watkins W.: Der Fährtensucher, Bern/München, S. 9
  2. Young / Haas / McGown: Mit dem Coyote-Guide zu einer tieferen
  3. Verbindung zur Natur, Buch 1. Biber Verlag, Extertal 2014.
    Interview mit Wildnispädagoge Ingmar Gröhn
  4. Dr. Andreas Weber: „Mehr Matsch! Kinder brauchen Natur“, Ullstein-Verlag 2011, S. 13
  5. MacKerron, George and Mourato, Susana (2013) Happiness is greater in natural environments. Global environmental change. ISSN 0959-3780
  6. Young / Haas / McGown: Mit dem Coyote-Guide zu einer tieferen Verbindung zur Natur, Buch 1 S. 14 f. Biber Verlag, Extertal 2014.
  7. Dyrchs, Susanne: WirZeit – Eine Familie auf der Reise zu sich selbst. Verlag Ludwig München 2021, Seite 145
  8. Young / Haas / McGown: Mit dem Coyote-Guide zu einer tieferen Verbindung zur Natur, Buch 1 S. 39 f. Biber Verlag, Extertal 2014.
  9. Woodburn, James. 1968. “An introduction to Hadza Ecology”, in Lee and I. DeVore (eds.), Man the Hunter. Chicago: Aldine.
  10. Tom Brown Jr. “Großvater – Ein Leben für die Wildnis” S. 161, Ansata-Verlag, Interlaken / Schweiz 1994
  11. Song, Tamarack: Sacred Speech: The Way of Truthspeaking
  12. Young / Haas / McGown: Mit dem Coyote-Guide zu einer tieferen Verbindung zur Natur, Buch 1 S. 118 f. Biber Verlag, Extertal 2014.
  13. Song, Tamarack: Becoming Nature – Learning the Language of Wild Animals and Plants. Bear&Company, 2016
  14. Brown, T./Watkins W.: Der Fährtensucher, Bern/München, S. 128
  15. Sinnsuche im Wagnis. Leben in wachsenden Ringen. 3., erweiterte Auflage. Baltmannsweiler 2021. ISBN 978-3-8340-1620-1.
  16. Sun Bear & Wabun: „Das Medizinrad”, Eine Astrologie der Erde, Goldmann Verlag München 2005
  17. Young / Haas / McGown: Mit dem Coyote-Guide zu einer tieferen Verbindung zur Natur, Buch 1 S. 43. Biber Verlag, Extertal 2014.
  18. Brown, T./Watkins W.: Der Fährtensucher, Bern/München, S. 4
  19. Andreas Weber in „Mehr Matsch! Kinder brauchen Natur“, Seite 12
  20. „Grundlagen der Wildnispädagogik – Mit dem Coyote-Guide zu einer tieferen Verbindung zur Natur“. Buch 1: Handbuch für Mentoren S. 80

Bildnachweis

  1. Dokumentarisches Bildmaterial: Maurice Ressel
  2. Die 17 SDGs oder Ziele laufen als buntes Band um die Erde
    © CC-BY-NC-ND 4.0, Visual Facilitators / Björn Pertoft
    Quelle: https://www.bne-portal.de/bne/de/weltweit/bne-2030/bne-2030_node.html
  3. Country Overshoot Days 2021 / Quelle Grafik: https://www.thinkcarbonneutral.com/earth-overshoot-day-weve-already-consumed-more-this-year-than-the-planet-can-regenerate/
  4. Native American: Curtis-Fotografie aus dem Jahr 1905: »An Oasis in the Badlands«. Foto: Archiv Christopher Cardozo
Autor und Survival-Experte Maurice Ressel

Über den Autor

Maurice Ressel

Hallo, ich bin Maurice, der Gründer und Mentor der Wildnischule Lupus. Mein Ziel ist es, Dir handfeste Überlebenstechiken zu vermitteln und dich für die Natur zu begeistern.

Hier erfährst du mehr über mich.

Text aktualisiert am 13.06.2023